Die Anfänge meiner Welt
Menschen für den Großen Bruder erzeugen. Ihre
Spione und Verbündeten sind »Päderasten, Lesbierinnen und andere sexbesessene
Menschen jeden Alters«. Die Heldin wird in letzter Minute davor bewahrt, ihr
jungfräuliches Blut dem Reich des Bösen zu überantworten, und an ihrem einundzwanzigsten
Geburtstag wird sie von ihrem reumütigen Vater unberührt dem Helden zugeführt.
Der Reiz des Buches lag
natürlich im seltsamen Verhalten Ellens/Christinas, wenn sie nicht sie selbst
war. In einer denkwürdigen Szene verstaucht sie sich den Fuß und bittet den
nervösen Helden, ihr den Strumpf hochziehen zu helfen: »Das Fleisch dort war
wie ein Polster aus Entendaunen unter einer straffen Haut aus hauchdünnem
Gummi«, berichtet er ehrfurchtsvoll. Doch er nimmt die Hand schnell wieder
fort; um ein Haar hätte Satan ihn auf Abwege geführt! Leider verblassen selbst
solche Momente, jetzt, da ich das Buch noch einmal lese, gegen Passagen, die
ins Pathetische abgleiten, zum Beispiel eine Rückblende, in der der Vater durch
die teuflische Vision einer Fabrik, an der in Leuchtbuchstaben sein Name
prangt, in Versuchung geführt wird: BEDDOWS LANDWIRTSCHAFTLICHE ZUGMASCHINEN,
oder als die Heldin alles, woran sie sich aus ihrem Leben als braves Mädchen
bei Tage erinnert, von Anfang an erzählen soll und dazu fast eine Stunde
braucht.
Bei mir hatte das schlechte
Blut eine Generation übersprungen. Du bist genau wie dein Großvater, hatte
meine Mutter immer gesagt, wenn wir über Kleider oder Make-up stritten, aber
jetzt war es fast schon zu offenkundig, als daß man es noch hätte aussprechen
müssen. Nur Grandma sah das anders. Da sie grundsätzlich gegen meinen Vater
war, betrachtete sie meine mißliche Lage als Folge des Umstandes, daß ich mich
leichtsinnigerweise überhaupt mit einem Angehörigen des männlichen Geschlechts abgegeben
hatte, und wies Vic die Rolle des Schurken zu. Für meine Eltern dagegen hatte
er lediglich mitgemacht, so überzeugt waren sie von der teuflischen Seite
meines Wesens. Aus demselben Grund zweifelten sie auch nicht daran, daß es mir
gelingen würde, meinen Zustand in der Schule zu verheimlichen, und so war es
auch. Niemand ahnte etwas, nicht einmal Gail. Ich brachte es nicht fertig, sie
einzuweihen, nicht weil sie schockiert gewesen wäre oder mein Geheimnis
ausgeplaudert hätte, sondern weil sie fasziniert gewesen wäre und bis ins
kleinste hätte wissen wollen, wie ich mich fühlte. Die Schwangerschaft wäre
dadurch unerträglich real geworden. Ich machte mir zwar nicht die geringsten
Hoffnungen auf eine schicksalhafte Fehlgeburt, aber wenn niemand Mitgefühl
zeigte, war es leichter, von Tag zu Tag zu leben, nach dem Aufstehen zu
erbrechen und mich in der Morgenversammlung matt zu fühlen. Geteiltes Leid ist
doppeltes Leid, wenn man nichts mehr ungeschehen machen kann.
Ich hatte Mühe, mir in
Erinnerung zu rufen, wer ich war, und ich selbst zu bleiben; wahrscheinlich war
ich tatsächlich ein bißchen verrückt. Wie sonst wären einige Briefe an mich
(»Miss L. Stockton«) zu erklären, die ich in jenem Herbst bekam? Ihr Wortlaut
ist fast identisch. Der folgende stammt von Miss E. M. Scott, der Leiterin von
St. Aidan’s in Durham:
24. November 1959
Sehr
geehrte Miss Stockton,
vielen
Dank für Ihre Bewerbung. Wie ich feststelle, werden Sie erst im Januar 1961
achtzehn. Da wir in der Regel keine Studentinnen unter achtzehn Jahren
aufnehmen, können wir Ihre Bewerbung für Oktober 1960 leider nicht
berücksichtigen.
Mit
freundlichen Grüßen...
In dem Brief des St. Mary’s
College stand das gleiche. Habe ich mich beworben, weil man das in der Schule
von mir erwartete? Vielleicht verschloß ich mich der Realität und stellte mir
vor, ich könnte mich irgendwie zweiteilen und eine von uns könnte in den fernen
Norden fliehen. Vielleicht schrieb ich die Briefe auch, ohne mit jemandem
darüber zu sprechen. Grandpa hatte in Durham studiert, »MA Dunelm« stand auf
dem Messingschild an seinem Platz im Chor. Eine andere Version seiner
verpatzten Karriere besagte allerdings, daß ihm das Geld gefehlt habe, um sein
Studium abzuschließen. Aber dann hätte er nicht zum Priester geweiht werden
können, es sei denn, er hatte sein Zeugnis gefälscht. Was immer mich veranlaßt
hatte, die Formulare auszufüllen — ich hatte nicht daran gedacht, mein
Geburtsdatum zu ändern, und in Durham würde man mich nicht nehmen.
Vic überlegte unterdessen, ob
er nicht einfach zur See gehen sollte. Seine
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