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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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Schule abgehen. Und dann? Nun, Vic konnte die Eignungsprüfungen für den
öffentlichen Dienst und die Schulabschlußprüfungen machen und sich eine Stelle
suchen, und was mich betraf, so stand meine unmittelbare Zukunft ohnehin fest.
Dr. Clayton sagte mir und meiner Mutter, daß man mit fortschreitender
Schwangerschaft bekanntlich ganz mit dem eigenen Zustand beschäftigt sei, man
fühle sich dann heiter, rund, besinnlich, eins mit sich selbst. Ich sah meiner
Mutter an, daß sie das nicht überzeugte, wahrscheinlich hatte sie es nicht ganz
so in Erinnerung. Und ich war entsetzt bei dem Gedanken, daß er recht haben und
ich meinen Zorn vergessen könnte.
    Ich wollte meinen Körper
wiederhaben. Der Gedanke, daß er mir gehörte, war mir bisher nie gekommen, erst
jetzt, da er mir nicht mehr gehörte. Als Schwangere war ich mein eigenes
Gefängnis, aber man konnte die Tage im Kalender abhaken, es war keine
lebenslängliche Freiheitsstrafe. Wenn man von dem Kind absah. Ich stellte mir
vor, wie mein Sohn (Babys waren damals zunächst grundsätzlich männlich), ein
stiller kleiner Zukunftsgeist, in einer Ecke spielte, während Vic und ich
elliptische Passagen bei Lukrez analysierten. Ich wollte die Abschlußprüfungen
ebenfalls machen, und wenn der Termin stimmte und das Baby nicht erst mit den
Prüfungen im Juni kam, sondern Ende Mai, konnte ich beides schaffen. Die
abgewandelte Form der Ehe, die Vic und ich nach und nach erfanden, bedeutete ja
nicht zwangsläufig, daß wir ein Familienleben wie meine Eltern führen mußten
(er der Ernährer, sie die Träumerin), doch das sprach keiner von uns aus.
    Je besser meine Eltern Vic
kennenlernten, desto mehr mochten sie ihn; er war nicht so stur und
kompromißlos wie ich. Besonders meine Mutter freute sich darüber, daß er immer
hungrig war. Es begann mit der Lauchsuppe. Seit einiger Zeit gab es
Fertigsuppen in glänzenden Packungen, und getreu ihrer Überzeugung, daß Gemüse
nur im denaturierten Zustand genießbar sei, kaufte sie Unmengen davon und
servierte sie mit großen Klumpen darin. Auf dem Herd stand immer ein Topf mit
einem Rest Suppe, und eines Abends in diesem Winter des Wartens, als Vic mich nach
Hause brachte, fragte sie ihn, ob er sie aufgewärmt haben wolle, und fügte für
den Fall, daß er aus Höflichkeit ablehnte, hinzu: »Sonst kommt sie nur um.« Er
schlang sie hinunter, obwohl seine Mutter eine ausgezeichnete Köchin war und er
zu Hause gut ernährt wurde; er hatte wirklich eine gewaltigen, wahllosen
Appetit. »Er hat sie nur so weggeputzt«, sagte meine Mutter später, schüttelte
theatralisch den Kopf und lachte erstaunt, und von da an versorgte sie ihn
unentwegt mit aus Konzentrat zubereiteten Scheußlichkeiten und etwas
Tiefgefrorenem namens »Chicklets«, das sie damals gerade entdeckt hatte und das
nicht einmal mein Vater aß. Sie mästete ihn so erfolgreich, daß er ebenso
zunahm wie ich und eine Art Parallelbauch ansetzte.
    Ich versuchte möglichst wenig
zu essen, aber es half nichts, und im Dezember war ich froh über die
Formlosigkeit der Schuluniform und hatte meinen knappen Silhouette-Hüfthalter
gegen ein robustes Modell mit Stäbchen und allem Drum und Dran eingetauscht.
Nur einmal wäre mein Geheimnis um ein Haar entdeckt worden, aber dieses eine
Mal ist mit der Säure der Panik in mein Gedächtnis eingeätzt, in allen
Einzelheiten, die man normalerweise nicht behält, weil sie so harmlos und
normal sind. Die Aula der Schule hatte eine Galerie, die wie ein Flur mehrere
Klassenzimmer miteinander verband und gute Zuschauerplätze für
Turnvorführungen, Theaterproben und ähnliches bot. Ich weiß nicht mehr, was an
diesem Tag unten in der Halle stattfand, aber eine meiner Freundinnen oder
Verehrerinnen, ein dickes Mädchen, hatte einen Stuhl aus dem Biologiesaal
geholt und ans Geländer gerückt. Als ich vorbeiging, schlang sie den Arm um
meine Taille, zog mich, ehe ich reagieren konnte, auf ihren Schoß und rief, wie
es mir vorkam, triumphierend boshaft: »Ooh! Du hast ja zugenommen!« In diesem
Moment verursachten mir der Formaldehydgeruch der auf Bretter genagelten Ratten
im Biologiesaal und die Platzangst, die die körperliche Nähe anderer Mädchen
schon immer in mir geweckt hatte, solche Angst und Übelkeit, daß ich völlig aus
der Fassung geriet. Ich war eine Außenseiterin, ich beherbergte einen
Fremdling, war selbst ein Fremdling. Ein solches Geheimnis zu haben war, als
hätte man Krebs, eine Krankheit, über die nur in verschämtem

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