Die Anfänge meiner Welt
lästernden Grandpa, manchmal auch
einer Taxifahrt, bis sie endlich im belebenden Mief einer Nachmittagsvorstellung
im Gaumont oder im Majestic versinken konnte. Die Plüschsitze, die
verlöschenden Lichter, das Glitzern des girlandengeschmückten, langsam sich
hebenden Vorhangs und die Pralinenschachtel waren fast so wichtig wie der Film
selbst. Aber sie liebte alles am Kino und gab sich vorbehaltlos der Illusion
hin. Der Begriff Fiktion existierte für sie nicht, ein neuer Ava-Gardner-Film
war nur der aktuellste Bericht darüber, was die mannstolle Ava inzwischen so
getrieben hatte. Daß sich Kostüm, Name und Schauplatz geändert hatten, war
nichts als dürftige Tarnung und konnte Grandma keinen Augenblick täuschen. Sie
war dabei, als Joan Fontaine, obwohl eine kühle Blondine, sich in Harry
Belafonte verliebte, und konnte (wie sie sagte) Joan nie wieder trauen. Bei
Grace Kelly hielt sie argwöhnisch Ausschau nach Anzeichen ähnlicher Neigungen,
und als Grace diesen Itaker heiratete, sah sie sich mehr oder weniger
bestätigt. (Sie selbst rührte nicht einmal dunkle Schokolade an, und
sonnengebräunte Leute verdächtigte sie, Negerblut in den Adern zu haben.) Als
das Fernsehen in unser Leben trat, wurde sie süchtig nach Seifenopern,
besonders nach Emergency Ward 10, einer Krankenhaus-Serie, die ihr Tag
für Tag das Leben rettete. Mit der Zeit wurde die Flimmerkiste zu ihrem
Babysitter, zum letzten, immer wieder umgestellten Ersatz für ihre Mutter. Ich
behandelte sie damals schon mit Verachtung, sah in ihr ein vergreistes
Kleinkind; in Wahrheit aber machte sie mir große Angst, denn sie verkörperte
die Möglichkeit, daß man niemals erwachsen wurde.
In Südwales kam einmal eine
Freundin von Katie zu Besuch, und ich mußte, zwischen Katie und Grandma
eingezwängt, auf einem Unterbett schlafen. Dieses vage Gefühl, tiefer und
tiefer hinab in ein Nest aus Federn, Rüschen und Fleisch zu sinken, wurde für
mich zum Symbol des Rhondda-Tals. Grenzenloser Rückfall drohte dort: lockte und
drohte. Es tat wohl — wie hätte es anders sein können — , in den weich
umhüllenden Schoß der Hereford Stores heimzukehren, und doch war ich jedesmal
froh, wenn wir wieder abfuhren. Je größer ich wurde, desto kleiner wurde
Grandma, und manchmal schien sie fast kugelförmig. Sie und Katie bildeten einen
exklusiven Club, in dem nicht einmal meine Mutter Vollmitglied war. Ich selbst
stand dem Allerheiligsten noch ferner, weil ich mich nicht an meine
Urgroßmutter erinnern konnte und die Lobeshymnen auf sie einfach glauben mußte.
Es gab noch andere walisische
Stimmen, auf die ich hätte hören können. Hin und wieder kamen zu meiner großen
Verwunderung Leute in den Laden, die meiner Mutter zu meinen Lesekünsten
gratulierten und voll Stolz erzählten, daß ihre Enkelkinder »vorankämen« und
die höhere Schule besuchten. Wie in allen Bergbaugebieten begeisterten sich die
Menschen in Tonypandy für Bildung, ganz im Gegensatz zu den rückständigen
Leuten von Hanmer. Die Zukunft war für sie etwas Reales, etwas Gutes, und auch
wer — wie schon der Vater — unter Tage arbeitete, gab deswegen das Lesen,
Nachdenken, Debattieren und Politisieren nicht auf; viele bildeten sich damals
noch durch Selbstunterricht weiter. Ich aber setzte den Ort mit der Atmosphäre
der Hereford Stores gleich, und die Fahrt in den Süden kam mir vor wie eine
Zeitreise. Im Rhondda-Tal wußte ich nicht mehr, wer ich war, und ich brauchte
es auch nicht zu wissen. Es war, als wäre ich noch nicht geboren.
Grandma bewahrte Papiertüten in
Papiertüten in Papiertüten auf... Jahre später, als sie starb und meine Mutter
und ich den Inhalt der Koffer sichteten, die den Bodensatz ihres lebenslangen
Hamsterns enthielten, stießen wir auf ein Geheimdepot von Briefen meines
Großvaters, verschnürt mit dem unvermeidlichen rosa Band. Er hatte sie verfaßt,
als er ihr den Hof machte, und sie waren gespickt mit Gedichtzitaten,
sentimentalen Floskeln und großartigen Plänen. Peinlichst berührt sahen wir sie
durch und kamen dann überein, sie zu verbrennen (wie oft habe ich mir später
gewünscht, wir hätten es nicht getan), weil sie uns als der beschämende Beweis
der beiderseitigen Unaufrichtigkeit dieser Heirat erschienen. Im selben Koffer
fanden wir auch Geld, zusammengefaltete Scheine, geschickt zwischen den Fotos
einer aufgedonnerten Katie, den wachsartigen Seifenstücken und den für den Fall
neuerlicher Rationierung gehorteten Zuckerbrocken verteilt. Und
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