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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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verzweifelten
Aufschreie — der Bericht eines vor sich hin werkelnden, geradezu grotesk
domestizierten Mannes war. Der Sünder, den ich erwartet hatte, war des
Hochmuts, der Wollust und der spirituellen Verzweiflung schuldig, nicht nur der
Faulheit und Unfähigkeit. Es war das Tagebuch eines Niemands. Ich war nahe
daran, die Seiten von Januar bis Juni herauszureißen, nur damit Grandpas Aura
einer mittelalterlichen Figur erhalten blieb. Aber im Grunde sollten wir dem
ruhig ins Auge sehen — der schrecklichen Erkenntnis, daß Antihelden, wenn sie
gerade nicht die Gebote brechen, ihre Tabakspfeife ausbessern und Radio hören.
    Es war ihm »ganz schön
schlecht« gegangen (dieses Mittelschicht-Oxymoron!) in den letzten Monaten in
Südwales. Als Geistlicher der Church of Wales konnte man es sich leisten, so
gut wie nichts zu tun; höhererseits nahm niemand davon Notiz, ein Pfarrer war
schließlich ein Gentleman. Ganz anders wäre es bei den Nonkonformisten gewesen,
bei denen weit mehr demonstrativ fromme, tätige Nähe zur Gemeinde gefragt war.
Doch Grandpa konnte seine Depression zu Hause hätscheln. Morgens schlief er
lange, und wenn er auftauchte, kränkte er sich über das Wetter — »Eine Zumutung
ist das, an einem derart eiskalten Morgen aufstehen zu müssen« — und machte im
Arbeitszimmer Feuer. Er versuchte es zumindest. Oft ging erwartungsgemäß etwas
schief: »Ruß kam in Schwaden herunter und hat es wieder erstickt«, schreibt er
noch am 6. Mai. »Bin mit meiner Predigt den ganzen Tag keinen Schritt
weitergekommen. Am Nachmittag ein Flugzeug...« Es sieht ihm gar nicht ähnlich,
daß er überhaupt wahrnimmt, was draußen passiert, so sehr geht ihm seine
Umgebung (die Pfarrei, sein Gefängnis) auf die Nerven. Vielleicht durchbrach
das Flugzeug seinen Schutzwall deshalb, weil es den himmlischen Regionen des
Wetters angehörte. Er beherrscht die Rhetorik des Barometers: Eisregen
quittiert er mit Vermenschlichung der Natur, Sonnenschein mit Ironie, Schnee
bringt alles zu einem erfreulichen Stillstand.
    Das Flugzeug war außerdem etwas Neues und etwas Technisches, so wie das Radio, nach dem er süchtig war.
Das Ohr am Lautsprecher, begibt er sich selbst in den Äther und hält
Zwiesprache mit der weiten Welt, so vertraut, als befände sie sich in seinem
Kopf. »Zahnschmerzen«, lautet ein Eintrag, »Erdbeben in Japan.« In Deutschland
kommt Hitler an die Macht (30. Januar), Roosevelts Vereidigung wird übertragen
(4. März). Grandpa registriert die Fakten, kommentiert sie aber nicht; ihn
interessieren mehr die Qualität des Kurzwellenempfangs, die Stellung der Antenne
und ob er einen Pye-Empfänger oder einen Murphy kaufen soll. Er testet beide,
zwängt kleine Zeichnungen der zur Wahl stehenden Geräte auf die Seite, und nach
genüßlichem Zaudern wirft er 17 Pfund und 17 Shilling für den Pye zum Fenster
hinaus.
    Das ist eine horrende Summe,
fast drei Viertel eines Monatsgehalts (er bekam 73 Pfund 4 Shilling 4 Pence pro
Quartal), aber es muß sein, denn durch das Hören und Knöpfedrehen münzt er
Untätigkeit und Langeweile in Betriebsamkeit um. Er geht kaum unter die Leute, auch
nicht in den Geschäften Gottes. Er schwänzt die Kirchenversammlungen (»habe
keinerlei Verlangen mehr, die Geistlichkeit von Rhondda zu sehen, das sind
solche Pöstchenjäger«) und vermerkt pedantisch und nicht ohne grimmige
Genugtuung den schwach besuchten Gottesdienst bei schlechtem Wetter: »Bin zur
H[eiligen] K[ommunion] aufgestanden. Kein Mensch bei der HK.« Das Radio dagegen
ist ein zuverlässiger Freund. »Habe den ganzen Nachmittag an meinem alten
Empfänger herumgedreht«, schreibt er fast glücklich, lange nachdem er den
besseren Pye erworben hat. Vermutlich verschaffte ihm das Brummen und Knacken
und kosmische Pfeifen der Interferenzen fast ebensoviel eigenbrötlerische
Zerstreuung wie die Sendungen selbst. Er liest natürlich auch, genauso rastlos,
am liebsten Science-fiction. Am 17. Januar beispielsweise ist das
»Rundfunkprogramm sterbenslangweilig. Habe Conan Doyles Die verlorene Welt angefangen und in einem Zug durchgelesen.« Er ist ein versierter
Phantasiereisender. Um sich seinen Amtspflichten zu entziehen, geht er im März
sogar so weit, eine plötzliche Dienstreise vorzuschützen, und macht ein paar
Tage blau — »Habe den ganzen Tag Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde gelesen...« An seinem regulären freien Abend saß er im Arbeitszimmer und beobachtete
die Leute, die zur Kirche gingen.
    Und er

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