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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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berauschender Ausgleich für meine
Isolation. Grandpa erzählte mir Geschichten und las mich abends in den Schlaf,
nickte dabei allerdings oft vor mir ein, auf dem Sofa ausgestreckt, mit offenem
Mund, schnarchend, das Raubvogelprofil von der Kerze erleuchtet. Meine
Lieblingsbücher (wir kannten sie beide auswendig) gingen ihm mit der Zeit
derart auf die Nerven, daß er eines folgenschweren Tages, als ich noch keine
vier war, in purer Notwehr beschloß, mir das Lesen beizubringen. Das machte
mich vollends zu seinem Geschöpf.
    Ich wußte, daß mein Name aus
einem der geschwärzten Bücher stammte — Lorna von Lorna Doone — und daß
Grandpa ihn ausgesucht hatte. Nun gab er mir den Schlüssel zu seiner Welt. Von
da an waren wir noch engere Verbündete, und wenn er mich in seinem klapprigen
Singer mitnahm, nach Whitchurch oder ins Fox and Goose, eine Kneipe in Green
End, kam ich gar nicht auf die Idee, ihn zu verpetzen. Solche Exkursionen
fanden öfter statt. Er war in Trinkerkreisen wohlbekannt und galt als Original,
ein redseliger Zyniker, immer mit seinem Kollar, das ihn von den anderen abhob.
Ich war das perfekte Alibi, denn weder meine Mutter noch meine Großmutter
ahnten, daß es Wirte gab, die sich so wenig um Sitte und Gesetz scherten, daß
sie Kinder in ihre Pubs ließen. Das galt jedoch längst nicht für alle, und
manchmal mußte ich auf den Stufen vor einer von Grandpas Stammkneipen sitzen,
einem unfreundlichen Lokal namens Lord Hill mit einer Drehtür, in Gesellschaft
von Straßenkindern, die viel mehr zum Fürchten waren als die Duckets.
Vielleicht habe ich das zu Hause doch erzählt, oder jemand hatte mich gesehen:
Jedenfalls hörten die Pubausflüge auf.
    Nicht aber das geheime
Einvernehmen. Wenn Grandpa im Arbeitszimmer an seiner Predigt arbeitete oder
mit einem der seltenen Besucher sprach, kniete ich auf dem abgewetzten Teppich,
zog Bücher aus den Regalen und rätselte an großen Wörtern herum. Manchmal
renommierte er Fremden gegenüber mit meinen Lesekünsten, meistens aber (das war
schließlich der Zweck der Übung) mußte ich still sein. Wenn er besonders gut
aufgelegt war, zeichnete er mir Bilder, wobei er unerklärlicherweise am
Fluchtpunkt anfing und den Rest dann perspektivisch ausführte. Ich lernte
diesen Kunstgriff ebenfalls, nie sehr gut, aber gut genug, um andere zu
verblüffen. Unser gegenseitiges »Aufpassen« wurde in ungleichmäßigen Etappen zu
einer Art Unterricht. Da er ein Mann mit vielen brachliegenden Fähigkeiten war,
nicht nur was Worte und Bilder anbelangte, sondern auch in der Musik, wäre ich
in den Genuß einer kompletten Vorschulbildung gekommen, wenn ich nicht
unmusikalisch gewesen wäre. Trotzdem wurde ich, sobald ich lange genug
stillsitzen konnte, in den Chor gesteckt, mit der strengen Anweisung, den Mund
dem Text entsprechend stumm auf- und zuzumachen. Doch ich war dort sehr
nützlich, denn man konnte mich von der Mädchen- auf die Jungenbank versetzen
(meine Zöpfe wurden dann unter die Mütze gestopft), falls dort mehr Lücken
klafften. Wenn ich Grandpa in der Sakristei beim Ankleiden zusah, hinter ihm
her in die Kirche schritt, ihm bei der Liturgie und der Predigt lauschte, dann
sonnte ich mich in seinem Glorienschein.
    Ich verfiel darauf, meine
Spielsachen in einem Winkel des Gartens aufzureihen, den ich »die höhere
Schule« nannte, und ihnen Vorträge zu halten. Mehrmals blieben sie über Nacht
draußen und wurden am Morgen völlig durchweicht hereingeholt und zum Trocknen
ins Backrohr gelegt. Mein Teddy, ein Mehrzweckbär mit einem viereckigen
schlaffen Bauch aus geblümtem Stoff, war von da an versengt. Ein Omen.
    Bald würde ich in die Schule
müssen, und das hieß in die Dorfschule, wo man die Dreckdifferenzierung ad
absurdum führen und auch auf meiner verzärtelten Seele Brandflecken
hinterlassen sollte. Anfängliche Bedenken, mich früher als nötig einzuschulen,
müssen verflogen sein, als die Versuchung übermächtig wurde. Wenn Großvater
nicht da oder verkatert oder nicht in Stimmung war, wanderte ich, vor
Selbstmitleid triefend, durchs Haus und jammerte »Was soll ich denn tu-u-un?«,
und die Tränen liefen mir über die Wangen. Bei schönem Wetter nahm Grandma mich
dann manchmal mit in den Garten, wo wir mein Elend exorzierten, indem wir mit
scharfen Scheren auf Brombeerranken und Brennessel losgingen und so taten, als
seien sie Grandpa oder die Duckets oder sonstjemand auf ihrer Abschußliste
(»Da! Du ekliges Biest! Du alter Teufel!«). Sie

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