Die Anfänge meiner Welt
Kirchgänger überquerten. Das vergitterte Küchenfenster schaute
ebenfalls auf den Platz hinaus, aber nicht freundlich, und der Salon auf der
anderen Seite der Haustür war leer und unbenutzt, so daß sich das Haus in sich
selbst zurückzog. Ein Klopfen an der Tür löste ein hektisches Räumen und Putzen
aus (meine Großmutter brauchte Zeit, sich zurückzuziehen, wenn sie auf war, und
mir wurde mit einem Waschlappen das Gesicht geschrubbt), denn es konnte ja
jemand sein, den man hereinbitten und ins Wohnzimmer an der Rückseite des
Hauses führen mußte, das — obwohl etwas feucht und verwahrlost — stets
saubergehalten wurde, »für alle Fälle«.
Kam der Besucher in kirchlichen
Geschäften, wurde er in Großvaters Arbeitszimmer hinaufgeführt. Dort standen an
allen Wänden Bücherregale, und auf den Buchrücken waren Autor und Titel
geschwärzt, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß ein Besucher eine
plötzliche Vorliebe für Dickens oder Marie Corelli faßte und sich einen der
Bände ausleihen wollte. Großvaters Schlafzimmer, vom Arbeitszimmer aus
erreichbar, wurde von der Eibe vor dem Fenster verdunkelt und roch nach ihm.
Auf der anderen Seite des Flurs hatte meine Mutter ihr Zimmer, in dem auch ich
als Kind schlief, und rechts um die Ecke lag das Zimmer meiner Großmutter.
Unter ihrem Bett waren Kohlen und Anmachholz gestapelt, und es roch nach
Pond’s-Gesichtscreme, nach Puder, Parfüm, Riechsalz und den Mottenkugeln
zwischen ihren Stadtkleidern und in dem Wust von Unterwäsche und Strümpfen.
Im ersten Stock befand sich
auch eine hochherrschaftliche Toilette mit einer Pfauentapete, ein
verschlungenes Muster von Federn und Zweigen, das man stundenlang betrachten
konnte — was ich auch tat, mit baumelnden Beinen auf dem hohen Holzsitz
thronend. Wenn man an der Kette zog, gurgelten und sangen die Wassertanks auf
dem Dachboden. In den anderen Dachkammern waren Äpfel auf Zeitungspapier
ausgelegt und dörrten dort still vor sich hin. Es war kein gruseliges Haus,
trotz des unheimlichen Kellers und obwohl wir auf Petroleumlampen und Kerzen
angewiesen waren, wie übrigens alle in Hanmer, bis auf die Bauern, die eigene
Generatoren hatten. In der Küche stand den ganzen Tag der Teekessel auf dem
Herd, und jeder aß, wann es ihm paßte.
Es gab ein Wort, das zu dem
Haus gehörte: »Alterungsschäden«. Es war eines der ersten langen Wörter, die
ich lernte, denn es wurde wie ein Mantra ständig wiederholt. Die Kirche erhob
von ihren Amtsinhabern eine Abgabe für die Instandsetzung der bröckelnden
Liegenschaften, und das war mit diesen fünf Silben gemeint. Wäre es Großvater
gelungen, die Alterungsschäden einzudämmen, hätten wir es wohnlicher gehabt,
und vielleicht wäre sogar noch etwas Kleingeld übriggeblieben. Undichte
Stellen, Hausschwamm, zerbrochene Fensterscheiben und schiefe Türangeln (von
denen wir jede Menge hatten) waren, bei Licht besehen, eine potentielle Einnahmequelle.
Doch da das Wort immer wieder auftauchte, kann Grandpa allenfalls einen kleinen
Nachlaß bekommen haben, und die Löcher im Dach wurden nie geflickt. Fest steht,
daß wir oft ohne einen Penny dastanden und peinlicherweise anschreiben lassen mußten.
Die Rationierung von Lebensmitteln und Kleidung muß ein Geschenk des Himmels
gewesen sein, denn sie verschaffte uns einen Deckmantel für unsere
Bedürftigkeit. Solange die schlechte Zeit währte, konnte das Pfarrhaus seinen
fragwürdigen Anspruch auf Achtbarkeit aufrechterhalten. Ärmlichkeit bedeutete
Tugend. Großvater hatte seine abgetragene Soutane, Großmutter ihre
Mottenkugelgarderobe, meine Mutter einige Vorkriegssachen, die eher schlecht
als recht ihren Dienst taten. Die Unterwäsche war vergraut und zerschlissen,
die Gummizüge fehlten. Auch die Schichten, die wir im Haus darüber trugen,
waren zerlumpt: verfilzte Pullover, löchrige Socken und Strümpfe, die uns in
Ziehharmonikafalten um die Knöchel hingen, Sicherheitsnadeln en masse. Draußen konnten wir uns noch einigermaßen sehen lassen, auch wenn mein Mantel
zunächst zu groß war (ich würde ja noch hineinwachsen) und dann plötzlich zu
klein, ohne daß er jemals wirklich gepaßt hätte.
Damals trug fast das ganze Land
diese schlechtsitzende Zivilistenuniform — kratzige Stoffe, unempfindliche
Farben, herausgelassene Säume, wulstige Abnäher. Die eigentliche Verrücktheit
und Nachlässigkeit unseres Haushalts aber äußerte sich nicht in der Kleidung,
sondern in intimeren Formen der Verwahrlosung: darin
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