Die Anfänge meiner Welt
Schimpfkanonade an Onkel Alberts Adresse war
eine Therapie für diese Form der Kriegsneurose, ebenso wie das Erzählen von
Kriegsgeschichten.
Wann immer sich eine Gelegenheit
auch nur andeutete — es genügte schon, daß sich eine Wolke vor die Sonne schob
oder jemand eine beiläufige Bemerkung über das Wetter machte — , erzählte mein
Vater von seinen Erlebnissen. Caen, Lüttich, Düsseldorf, Hamburg, Genua,
Triest, Pula... einzig die King’s Shrophshire Light Infantry, das Regiment, in
das er 1939, eine Woche nach Kriegsausbruch, eingetreten war und das er nach
seiner Ernennung zum Offizier wieder verlassen hatte, reduzierte sich im Laufe
der Jahre auf die Anfangsbuchstaben K-S-L-I. Die ausländischen Namen waren eine
vertraute Litanei. Nicht lange, und er kerbte mit dem Messerrücken Linien in
die Tischdecke, brachte Pfeffer, Salz und Soßenflasche in Stellung und
zeichnete Landkarten mit den Orten, wo er verwundet worden war, wo die Deutschen
sie beinahe überrannt hatten, wo er sich die Sporen verdient hatte. Auf ein
neues, Sir John Ridd!
Mein Vater war ein
Kriegsgefangener, obwohl er nie in Gefangenschaft geraten war. Sein Leben lang
rekonstruierte er wieder und wieder die Schritte, die ihn das alles hatten
überstehen lassen: matschige Stiefelabdrücke im Sommer 1944, Spuren im Schnee
im Winter 1944-45. Dann richtete sein Blick sich in die Ferne, und manchmal
schüttelte er in gespieltem Staunen den Kopf. Das sechste Bataillon der Royal Welsh
Fusiliers, der walisischen Infanteristen, zu dem er im Zuge der Verstärkung der
Invasionstruppen in der Normandie im Juli abkommandiert worden war, verlor
westlich von Caen innerhalb von achtundvierzig Stunden achtzehn Offiziere und
zweihundertsechzig Mann (die Hälfte der Offiziere, ein Viertel der Mannschaft).
Er selbst wurde (am 16. August) schwer verwundet und nach England
zurückgebracht. Sechs Wochen hatte er an der Front ausgeharrt, großenteils
unter schwerem Beschuß im Schützengraben. Damals wurde er zum Hauptmann
befördert.
Einmal hatte er sogar die
Deckung verlassen und sich ins Niemandsland vorgewagt, obwohl sich das Ganze in
Deutschland abspielte. Als er wieder zu den Royal Welch in die Ardennen kam,
waren die Verluste nicht so hoch, aber genau dort absolvierte er das schlimmste
Spähtruppkommando seines Lebens. Die Deutschen hatten in einem Kiefernwald auf
der anderen Seite eines engen Tales gelegen, und man wußte nicht, ob sie noch
dort waren. Um das auszukundschaften, wurde er mit einem Feldwebel und vier
Mann losgeschickt. Sie mußten zu dem Bach in der Talsohle hinunter, und der
schnellste Weg führte über einen frisch verschneiten Abhang. Wenn sie unter
Beschuß gerieten, würde man Bescheid wissen. »Wir sind also hier über den
Hügel...« Das zusammengeschobene Tischtuch wird zu Schnee. Sie verteilen sich —
der Feldwebel und seine zwei Mann gehen hundertfünfzig Meter nach rechts — ,
und dann rennen sie im Zickzack den Hang hinunter, durch den tiefen, weichen
Schnee, der in Klumpen an den Stiefelsohlen hängenbleibt. Als sie drei Viertel
der Strecke geschafft haben, eröffnen die Deutschen, die in aller Ruhe auf der
Lauer gelegen haben, das Feuer, und der Feldwebel wird getroffen. Er bleibt
reglos liegen, seine Leute kriechen den Hang wieder hinauf, mein Vater und die
beiden anderen Männer rennen weiter bergab, erreichen den Bach, gehen atemlos
unter einer Brücke in Deckung, warten, bis es dunkel wird, und steigen dann
mühsam wieder auf. Befehl ausgeführt. Am hellichten Tag, ohne Deckung und ohne
Schneeanzüge. »Die hatten einkalkuliert, daß wir dabei draufgehen«, sagte er
ohne Bitterkeit und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Wir wurden
losgeschickt, um die Lage zu sondieren, als wandelnde Zielscheiben.« Der
Feldwebel überlebte, er hatte sich totgestellt und wurde gefangengenommen.
In den Wäldern wurde er zum
zweitenmal verwundet, als er Munition über eine Lichtung schaffte. Eine Granate
schlug ein, zwei Mann wurden schwer verletzt, er selbst hatte Glück: Der
Splitter, der ihm durch die Zähne drang, machte lediglich einen Zahnarztbesuch
erforderlich, nachdem sie die Munition abgeliefert hatten — »Penicillin, eine
Tetanusspritze und ein paar Tage wie Gott in Frankreich beim Divisionsstab«.
Inzwischen ist der Krieg fast vorbei, nur in Triest und Pula, wo er zwischen
einander bekriegenden italienischen und jugoslawischen Splittergruppen
vermitteln soll, erlebt er noch ein paar brenzlige Situationen. Den
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