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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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Haushaltsführung ohne Hilfe Weitergaben. Die Hymne
des WI war William Blakes »Jerusalem«, und wenn ich später den Text hörte, sah
ich jedesmal den heruntergekommenen Dorfsaal mit den splitternden Dielen, den
gezackten Klappstuhlreihen und den jetzt vor Zugluft schützenden ehemaligen
Verdunkelungsvorhängen vor mir: zeitweilige Hochburg des Biedersinns, der auch
Whistturniere und Gartenfeste im Umkreis von fünf Meilen beherrschte.
    »Bring mir den Bogen von
glühendem Gold, Bring mir die Pfeile der Sehnsucht«, sangen die Matronen und
träumten dabei von Pfannenwendern aus rostfreiem Stahl und elektrischen
Rührgeräten. Ihre Tweedkostüme rochen nach Feuchtigkeit und Kampfer, ihre
gepuderten Hängebacken zitterten, der Lippenstift kroch in die Falten unter
ihren Schnurrbärtchen, und ihre blauen Augen tränten vom Rauch des Koksofens.
Sie nahmen ihre Hüte (Filz, Federn) niemals ab, nicht einmal wenn sie sich
ihrer Jacken entledigten, um Tee und Sandwiches herumzureichen. Die meisten
waren älter als meine Mutter, jedenfalls sahen sie so aus. Es waren Stützen der
Gesellschaft, die wir sonst nur in der Kirche sahen, Großbäuerinnen, Gattinnen
und Witwen von Akademikern und ihre unverheirateten Schwestern, und sie
interessierten sich für Kartenspiele, Klatsch und Backwettbewerbe. Meine Mutter
hatte auf keinem dieser Gebiete etwas beizutragen, so daß man meinen könnte,
sie sei dort völlig fehl am Platz gewesen. Aber dem war nicht so. Sie hatte
ihre feste Rolle, sie wurde gebraucht, denn das WI hatte eine Theatergruppe,
die einmal im Jahr ein Stück aufführte und auch sonst allerlei Vorstellungen
gab, auch bei den anderen Ortsgruppen des Vereins, und in allen spielte meine
Mutter Hauptrollen. Dorthin zielten die Pfeile ihrer Sehnsucht. Auf der
Bühne machte sie wett, daß sie sich in Hanmer abseits hielt und mit Kuchenteig
und Marzipan auf Kriegsfuß stand. Sie war unstet, wandelbar. Selbst ihre
Sprache war fremd, sie hatte ihren südwalisischen Akzent beibehalten, und ihr
Singsang mit den gerollten Konsonanten — ganz zu schweigen vom Tempo ihres
Vortrags — war im Vergleich zur langsameren, gutturalen Sprechweise der
Hanmerianer schon an sich bühnenreif.
    Die Damen des WI hätschelten
sie, ich dagegen krümmte mich vor Abscheu. Jedesmal wenn sie auftrat — oder
auch nur zu Hause ihren Text lernte — , wurde mir schlecht vor Wut.
Stellvertretend schämte ich mich wohl dafür, daß sich ihre Schüchternheit und
ihr mangelndes Selbstvertrauen bei dieser öffentlichen Schaustellung ins
Gegenteil verwandelten. Oder eben nicht ganz verwandelten, denn das
Schreckliche am Laienspiel ist ja, daß man unter der Maske doch immer den
Menschen sieht. Das Spiel meiner Mutter erschien mir wie ein monströses
Täuschungsmanöver, sie gab sich umgänglich und selbstbewußt, dabei war sie »in
Wirklichkeit« hilflos. Schlimmer noch: Auf der Bühne wurde offenbar, daß sie
sich immer verstellte, denn ihre Hilflosigkeit im wirklichen Leben war
ebenfalls gespielt...
    Mit den Jahren wurde es noch
ärger, denn die Theatergruppe sah allmählich ein, wie unmöglich es war, Männer
für die Männerrollen einzuspannen, und wie unbefriedigend, die stattlichen
Damen in Männerkleider zu stecken, und so beschränkte man sich auf reine
Frauenstücke, -dialoge und -monologe. Anfang der fünfziger Jahre, vielleicht im
patriotischen Nachklang der Krönung, wurden zwar noch Noël Cowards Wunderbare
Zeiten aufgeführt, später aber konnte meine Mutter mit Monologen à la Joyce
Grenfell glänzen, virtuosen tragikomischen Darbietungen der Selbstentblößung,
die ausnahmslos von Peinlichkeit handelten, Peinlichkeit hoch drei. Ich
war außer mir. »Bringt mir den Wagen von Feuer...«
    Stumm sang ich in meinem Innern
»Jerusalem«, nahm dem WI den Text weg, wischte die kehligen Stimmen davon ab,
tat die Buchstaben ins Buch zurück und stellte das Buch wieder in sein Regal in
der Bibliothek in meinem Kopf. Ein weiteres großes Ärgernis an der
Schauspielerei war, daß die Worte zu so viel Spucke und Geschnaufe wurden und
sich unter die Leute mischten, während ich sie doch für mich allein genießen
wollte. Wenn wir Jerusalem in Englands grün und heitrem Land erbauten, dann
würde es, was mich betraf, eine Stadt mit lauter einzelnen Türmen sein, in die
man sich zurückziehen konnte, um, vorzugsweise nachts, mit imaginären Freunden
Zwiesprache zu halten. Figuren auf der Bühne darzustellen war ein grausamer
Angriff auf die gesamte Gattung

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