Die Anfänge meiner Welt
irrealer Personen.
Insgeheim mißbilligte und
verachtete ich Aufführungen jeder Art (daß ich mich für mein Lampenfieber
schämte, hieß nicht, daß mir die Schauspielerei etwas bedeutet hätte). Ich
konnte Hunderte von Gedichten auswendig, die ich vor meinem geistigen Auge
aufinarschieren ließ, als wären sie mein Eigentum. Lesen an sich war schon eine
Art Theater, »richtiges« Theater dessen prosaisches Zerrbild. Was mich aber
nicht hinderte, für mich allein auch Theaterstücke zu lesen, nicht nur
Shakespeare und Marlowe in Klassikerausgaben, sondern auch Shaw, Synge und
Eugene O’Neill. Sogar Werke von Coward und Terence Rattigan lieh ich mir in der
Bücherei aus, und die Eleganz dieser Autoren schien mir unübertrefflich. Ich
hielt sie für praktisch unaufführbar. Ihre sehr diesseitigen Figuren waren unsagbar schick, sie litten unter der Sehnsucht nach Vollkommenheit.
Ein Wort, das mich faszinierte,
war »Ennui«, um so mehr, als ich keine Ahnung hatte, wie man es aussprach. Seine
Fremdartigkeit war nicht französisch, sondern phantastisch, es gehörte zu dem
Anderswo, das ich mit meinem unersättlichen, unsystematischen Lesen
durchstreifte. Denn ich las zwar alles, überschlug aber prosaische,
realistische Passagen, ich wollte keine lebensechten Figuren, ich
bevorzugte solche, die zu ihrer Unwirklichkeit standen. Meine Lieblingsbücher
waren samt und sonders poetisch, auch wenn sie nicht gereimt waren, und schon
die Namen ihrer Autoren — Rafael Sabatini, Rider Haggard — klangen wie die von
Romanhelden.
Bücher gehörten keiner
bestimmten Zeit und keinem bestimmten Ursprungsort an, ihre Inhalte vermischten
sich, gingen ineinander über. Im Grunde waren sie alle ein einziges Buch — und
ich besaß in der Tat ein Buch, das für alle anderen stehen konnte, ein Erbstück
aus dem Pfarrhaus, das aus dem »guten« Bücherschrank in unserem offenen
Wohnzimmer verbannt worden war, weil es Rückenschild und Buchdeckel eingebüßt
hatte. Es hieß Dichtung für die Jugend, ein dicke, 1881 erschienene und
oft nachgedruckte Anthologie, die als Preis an gute Schüler verteilt wurde,
eine Sammlung heroischer, gefühlvoller Gedichte, größtenteils von den
Romantikern und ihren viktorianischen Schülern, speziell Felicia Hemans und
Longfellow. Düstere Stiche von Schlössern im Mondlicht zierten das Buch, von
gestrandeten Schiffen und von Vögeln, den einzigen Vertretern des Tierreichs,
die ätherisch genug waren, seinen Geist zu verkörpern, denn es war zwar
gespickt mit Gedichten über das Wirken und Weben der Natur (Stürme, Wolkenbrüche,
Ebbe und Flut), schwieg sich über fleischliche Begierden jedoch beharrlich aus
und brachte es fertig, Liebe mit dem Winken beim Abschied von der Heimat zu
verwechseln. Eigentliches Thema aber war der Tod: der Tod in früher Kindheit,
der Tod in fernen Gefilden des Empire, der nasse Tod auf der Reise dorthin —
und auch der ganz normale Tod. Der Tod war der Große Preis der Dichtung für
die Jugend. Durch ihn gelangte man zu dichterischen Ehren: Blakes
Schornsteinfeger, Byrons Gladiator, der »Rom ergötzt beim Festtagsmord«, der
Junge auf dem brennenden Schiff, der Spielmann, Somebody’s Darling, Osymandias,
Poes Lenore, Lord Ullins Tochter (1 daughter reimte sich auf water), der verlassene Wassermann, die einsame Schnitterin, Simon Lee, der alte
Weidmann, Grays rühmloser, stummer Milton, Lucy, ein Veilchen am moosigen
Stein, schon vor ihrem frühen Tod. Diese Welt war das »Feldlager des Lebens«,
es waren die »Vorstädte der Ewigkeit« in Longfellows unvergeßlichen Worten. Das
Schlußwort in Dichtung für die Jugend hatte Shelley: »O Welt, o Leben, o
Zeit, deren letzte Stufen ich erklimme...« Seligkeit. Ennui.
Aber ich schweife ab, ich
entferne mich von der Welt meiner Mutter — doch genau das war ja der Zweck der
Bücher. Niemand kontrollierte meine Lesegewohnheiten, denn meine Mutter
bewahrte die Pfarrhausbücher zwar sorgsam auf und staubte sie sogar
gelegentlich ab, aber sie schlug nie eines auf, niemals. Alles, was sie las,
waren French’s Dramentexte, die Frauenzeitschrift Woman ‘s Own und
Besprechungen von Amateuraufführungen im Whitchurch Herald. Als Grandpa
sie im Stich ließ, hatte sie sich mit Entschiedenheit vom Lesen abgewandt. Es
war, als lauerte er noch in den Büchern, mitsamt seiner Schürzenjägerei, seiner
Verlogenheit und seiner Genußsucht. Theoretisch hielt sie das Lesen für eine
gute Sache, doch das leichte Schulterzucken und
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