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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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Naserümpfen, wenn sie sagte,
sie habe keine Zeit dafür, sprach Bände. Für sie waren Bücher Gespenster. Das
Regal litt nicht nur an schwerem Holzwurmbefall aus Pfarrhauszeiten — eine
Gefahr für unser neues Haus — , es war außerdem ein Friedhof: Man konnte sich
in einem Buch vergraben und in einen asozialen, fast kriminellen Ennui
abgleiten. Grandma lebte in Fleisch und Blut bei uns, kurzatmig Kekse mümmelnd,
aber auch Grandpa war noch da. Wie ein Flaschengeist tauchte er auf, wann immer
ich mit den dandyhaften, lebensüberdrüssigen Figuren aus den Resten seiner
Bibliothek Umgang pflegte. Rang meine Mutter nicht die Hände und sagte, er habe
mich verdorben?
    Ich war mir meines Sündenmonopols
vollkommen sicher und merkte deshalb nicht, daß sie, sobald sie auf der Bühne
stand, ebenfalls sein Geschöpf war. Die stattlichen Damen aber sahen mit
Sicherheit ihren Vater in ihr. Das WI war so wohlanständig und gesetzt, daß ich
— obwohl ich täglich Schwester Burgess’ Beispiel vor Augen hatte — gar nicht
auf die Idee kam, den Zusammenhang herzustellen: Tatsächlich aber hatte mehr
als eine dieser tweedumhüllten alten Jungfern eine Affäre mit Grandpa gehabt.
Zweifellos sahen sie in der schauspielerischen Begabung meiner Mutter einen
Widerschein seiner bitteren, zwanghaften Beredsamkeit. Immer wenn ich glaubte,
sein Geist sei ein reines Produkt meiner Phantasie, war er wieder da, ganz der
alte, und trieb in der Erinnerung anderer sein frivoles Spiel.
    Der einzige, der außer mir
wußte, was in den Büchern stand, war Onkel Bill, der Bruder meiner Mutter, aber
er gab vor, sie zu verachten. Romane zu lesen sei Zeitverschwendung, erklärte
er, Opium für das Bürgertum, man müsse die Realität in den Griff bekommen. Er
besaß auch eigene Bücher, sogar ein ganzes Fach voll in unserem Regal, denn er
zog ständig um, von einer Einzimmerwohnung in die nächste, und reiste gern mit
leichtem Gepäck. Werke über die Evolution und dicke Selbstlernbücher mit
nüchternen Titeln wie Mathematik für Millionen oder Wissenschaft für
jedermann standen da, aber er hatte auch Grandpas Irrealitätensammlung um
etliche Bände erweitert, darunter Vom Winde verweht, Amber, King’s Row, Der
Werwolf von Paris. Auch diese Bücher las ich, hingerissen von verbotener
Liebe, Bürgerkrieg, Miederwaren im Wandel der Zeiten, Inzest und Nekrophilie.
Onkel Bills in Ungnade gefallene Sammlung eskapistischer Klassiker sah anders
aus und fühlte sich anders an als die Pfarrhausbücher, nicht nur, weil man die
Rückentitel lesen konnte, sondern auch, weil sie aus Kanada stammten, wo er bei
Kriegsende stationiert gewesen war. Zu einer Zeit, da englische Bücher
knauserig eng gedruckt waren, strahlten schon ihr Einband und der
verschwenderische Umgang mit dem Papier nordamerikanische Üppigkeit aus. Dieser
Unterschied prägte sich mir unauslöschlich ein, als ich eines Nachts Vom
Winde verweht zu Ende las. Immer schneller blätterte ich die Seiten um, von
denen mein rechter Daumen noch beruhigend viele spürte. Das Happy-End mußte kommen
— und dann war plötzlich Schluß! Leere Seiten, eine buchbinderische
Nachlässigkeit, ein glatter Betrug! Ich weinte mir die Augen aus. Noch
jahrelang sah ich mir, bevor ich ein Buch anfing, immer erst die letzten Seiten
an. So machte mich Onkel Bill unwissentlich mit dem materiellen Aspekt der
Literatur bekannt.
    Bills Treue zu den harten
Tatsachen war nicht ganz konsequent. Es gab unter seinen Sachbüchern auch
pseudo-völkerkundliche Werke — Exotische Bräuche in Liebe und Ehe hieß
eines, in das ich mich vertiefte. Es enthielt ebenso pikante wie vage
Beschreibungen von Bräuchen wie dem »Bündeln«, was nichts Exotischeres zu sein
schien als vorehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Liebespaaren im hohen
Norden. Wahrscheinlich umklammerten sie sich nur, um sich gegenseitig zu
wärmen. Damals (in Filmen durfte noch nicht einmal ein Ehepaar im Doppelbett
gezeigt werden) war das natürlich hochbrisant. Mir war klar, daß diese Exotischen
Bräuche verbotene Schauder hervorrufen sollten, aber irgendwie fehlten mir die
Antennen dafür, und aus schierer Verwirrung und Enttäuschung las ich das Buch
wieder und wieder.
    Ähnlich verhielt ich mich auch
Onkel Bill selbst gegenüber. Es zeigte sich, daß er in weit geringerem Maße ein
Gleichgesinnter war, als es den Anschein hatte, trotz seiner Kräche mit meinem
Vater übers Geschäft. Auch er war Realist, zumindest haßte er
Idealisierungen und fand ein

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