Die Anfänge meiner Welt
verdächtig großes Vergnügen daran, die nackte
Wahrheit bloßzulegen. Hunger war real, Sex war real, und Geld war realer als
diese beiden Bedürfnisse zusammen, denn es ermöglichte ihre Befriedigung. Bill
wippte ungeduldig grinsend auf Fersen und Zehen und ließ das Kleingeld in
seinen Taschen klimpern, während er seine ernüchternden Reden schwang. Er war
klein und drahtig und wirkte immer hungrig, obwohl er lieber rauchte als aß.
Sexuell war er jedenfalls ausgehungert, wie er sarkastisch kichernd prahlte.
Heirat sei Wahnsinn, es gehe dabei um nichts anderes als um Kauf und Verkauf:
Privateigentum an Frauen. Ohne Geld müsse man allerdings nehmen, was man
kriege, und könne nicht wählerisch sein. Er schien es mir nicht zu verübeln,
daß ich seine Avancen zurückgewiesen hatte (die Brigitte Bardot des kleinen
Mannes). Später erkannte ich, welchen Gefallen er mir damit tat, daß er mich
mit der rauhen Wirklichkeit konfrontierte. Die pädagogischen Spaziergänge mit
ihm hörten nicht ganz auf, jedenfalls nicht gleich, aber ich blieb mißtrauisch.
Bill gehörte zur Familie — und
auch wieder nicht. Er war ein Außenseiter, ein selbsternanntes schwarzes Schaf.
Als Kind hatte ich mir darunter eines jener rußgeschwärzten Schafe vorgestellt,
die auf den Schlackehalden des Rhondda-Tals herumliefen und in Mülltonnen
wühlten, und in gewisser Weise lag ich damit gar nicht so falsch. Er war ein
eingefleischter Städter und verachtete Hanmer. Nach dem Krieg war er nach
Wolverhampton gezogen, wo er in der Fabrik eines Mannes, den er bei der
Luftwaffe kennengelernt hatte, tageweise Reparatur- und Malerarbeiten
ausführte; er gehörte also nicht zur regulären Belegschaft der Fabrik (wie er
mich glauben machen wollte). Außerdem besuchte er Abendkurse, denn wie meine
Mutter hatte er die Schule abgebrochen, als Grandpa und Grandma zu sehr damit
beschäftigt waren, einander in der Luft zu zerreißen. Ihm schwebte ein
Architekturstudium vor, aber die Kurse besuchte er, wie er selbst zugab, vor
allem, um Frauen kennenzulernen und Heizkosten zu sparen. Ohnehin war er zu
sprunghaft, um länger bei einer Sache zu bleiben, und bildete sich etwas auf
seine Wurzellosigkeit und seine Armut ein. Wenn erst die Revolution kam, würden
die braven Bürger schon sehen, was Sache war.
Unterdessen lebte er von
Gelegenheitsarbeiten und dem, was Grandma ihrem Liebling zusteckte. Billy war
von ihrem unversöhnlichen Haß auf die Männer komplett ausgenommen. Sie sparte
ihre Rente und geizte mit ihrem Beitrag zum Haushaltsgeld, damit sie ihm aus
der Patsche helfen konnte, wenn er wieder einmal abgebrannt war. Vielleicht
ließ er sich überhaupt nur deshalb bei ihr blicken — aber er war ohnehin ein
notorischer Schnorrer. Er hatte stets zwei Hosenklammern in der Tasche, für den
Fall, daß ihm jemand ein Fahrrad lieh.
Man konnte sich darauf
verlassen: Wenn Bill da war, gab es dicke Luft. Mein Vater trug seine
ostentative Rechtschaffenheit noch dicker auf, denn er »stritt« mit Bill zwar
lautstark über Politik, aber es war nur ein symbolischer Schlagabtausch; das
Thema Geld sparte er mit Rücksicht auf meine Mutter grundsätzlich aus. Was mich
betraf, so wurde mir Bill immer unwichtiger. Weit davon entfernt, mich für die Welt
der Fakten zu begeistern, bestärkte er mich sogar in meiner Überzeugung, daß
imaginäre Wesen realer waren. In meinen Revolutionsszenarien tummelten
sich phantastische Gestalten in historischen Kostümen, gegen die Bill eine
schäbige, unglaubwürdige Figur war. Etwa um diese Zeit, in dieser pubertären
Phase zwischen Kindheit und legitimer Teenager-Launenhaftigkeit, kam ich
dahinter, daß man sich im Kreise der Familie manchmal besser in sich
zurückziehen konnte, als wenn man allein war.
Die Samstagnachmittags-Kinobesuche
mit meinen Eltern gewannen eine neue Bedeutung. Die Schauspielerei auf der
Leinwand hatte in keiner Weise das abstoßend Persönliche der Aufführungen im
Gemeindesaal. Man spürte, daß den Stars ein Platz unter den Unsterblichen
sicher war. Kirk Douglas und Jean Simmons mögen zwar in ihren Rollen —
beispielsweise in Spartakus — noch als Personen erkennbar gewesen sein,
aber sie — »Kirk Douglas«, »Jean Simmons« — waren beruhigend überlebensgroß und
ganz und gar unwirklich; sie und nicht die blassen Fiktionen, die sie
verkörperten, waren die Helden und Heldinnen des großen Hollywood-Kinos. Sie
blieben sich immer gleich, Jeans Blick war stets seelenvoll, ihre Lippen
bebten,
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