Die Angst der Boesen
der Polizei in Bremerhaven hatte wenig ergeben. Mit den Bullen war er atmosphärisch einfach noch nie auf einer Wellenlinie gewesen. Offenbar hatten sie gedacht, er sei einer dieser Idioten, die die Polizei mit erfundenen Geschichten und falschen Behauptungen auf Trab halten.
»Wo genau sich Ihr suchtkranker erwachsener Sohn zurzeit aufhält, wissen Sie also nicht?« Allein die Frage! Da war ihm schon der Kragen geplatzt. Die wollten ihn nur abwimmeln, einen Suchtkranken wollten die doch gar nicht suchen.
Der Beamte versicherte ihm noch, dass er einen Streifenwagen an Bahnhof, Kneipenviertel und Friedhof vorbeischicken würde, außerdem würde man die Augen aufhalten.
»Das reicht mir nicht«, hatte Gerd in den Hörer gebrüllt.
»Rufen Sie in einer Stunde noch mal an. Wenn Ihr Sohn sich bis dahin nicht gemeldet hat, verspreche ich Ihnen ...«
Gerd hatte einfach aufgelegt.
Die Stunde, von der der Polizist gesprochen hatte, war fast um. Aber sollte Gerd überhaupt noch einmal auf der Wache anrufen? Sicherer wäre es auf jeden Fall, selbst zu handeln. Er hatte ja sowieso nach Bremerhaven fahren wollen und von den Bullen hielt er genauso wenig wie vom Jugendamt. Mit diesen Institutionen hatte er in der Vergangenheit genug Ärger gehabt.
Abrupt blieb er stehen, überlegte, was zu tun wäre: Eine Rufumleitung vom Festnetzanschluss auf sein Handy legen, damit Martin ihn jederzeit erreichen konnte, während er unterwegs war. Die Fahrt würde in der Nacht schneller gehen, dreieinhalb Stunden, schätzte er. Trotzdem vorher schnell noch einen Espresso trinken. Dann einen Pulloverund eine Decke in die Sporttasche werfen, ein paar CDs, die ihn wach halten würden, eine Taschenlampe und etwas, um seinem Willen Nachdruck zu verleihen. Schade, dass er den Baseballschläger nicht mehr besaß.
9
Paul geriet ins Stolpern, als er hörte, was Sven ihm nachrief:
»Mach dir nicht in die Hose, Paule! Denk dran: immer sauber bleiben.«
Die Schüler, die im Gang standen, lachten, obwohl sie nicht wussten, worum es ging, und der Herbergsvater, der zufällig im Eingangsbereich stand, blickte auf Pauls Schritt, als erwarte er dort einen nassen Fleck. Dass Paul kurz vor Ende seiner Schulzeit noch so einen Albtraum erleben musste!
Sobald er mit Lilly wieder draußen war und Schutz im Kellereingang gefunden hatte, sagte er: »Ich kann heute Nacht nicht mit denen in einem Zimmer schlafen.«
»Was ist denn nur passiert?«
Vielleicht wäre es gut, ihr alles zu erzählen. Sie kannten sich seit dem Kindergarten, hatten lange in der gleichen Straße gewohnt, bis seine Familie das alte Haus der Großeltern geerbt hatte. Lilly sein Herz auszuschütten würde Paul erleichtern und vielleicht sogar Auswege zeigen.
»Es gab Stress mit einem Typen. Erst wollten sie mir an den Kragen, dann kam der zufällig vorbei und sie haben sich auf ihn gestürzt.«
»Aber keiner aus unserer Klasse?«
Paul schüttelte den Kopf. Vor seinem inneren Auge sah er wieder den Obdachlosen. Wie der auf dem Bodenliegend versuchte, ein Lächeln hervorzubringen, wie er noch bis zum letzten Moment hoffte, die unerwartete Aggression, die sich gegen ihn entlud, wäre nur ein Missverständnis, das er durch ein freundliches Gesicht abwenden könnte.
»Der lacht noch, ey! Lachst du etwa, du Hurensohn? Pass auf, ich tret dir in die Fresse, bis du richtig lachst!«
Bei der Erinnerung zitterten Paul die Knie, Übelkeit stieg in ihm hoch.
Der Straßenjunge hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt, hatte genau die falschen Bewegungen, die falschen Gesten gemacht. Aber welche hätte er machen sollen, damit der Sturm an ihm vorübergezogen wäre?
Paul wusste es nicht.
»War er denn alleine oder waren noch andere dabei?«, fragte Lilly, der sein Schweigen zu lang dauerte.
Wieder schüttelte Paul den Kopf, krümmte sich, weil sein Magen schmerzte. Zum ersten Mal fühlte er Reue, dass er nicht eingegriffen hatte. Nicht mal mit dem Handy Hilfe gerufen hatte er. Er besaß kein Fünkchen Zivilcourage, war auch nicht in der Lage, wenigstens jetzt zu einer Telefonzelle zu laufen und von dort anonym einen Krankenwagen zum Friedhof zu schicken.
»Na, sag schon«, forderte Lilly ihn auf.
»Ich kann nicht darüber reden.«
»Ich behalt’s für mich.«
»Das weiß ich.« Er sah in ihr offenes, ehrliches Gesicht. Als sie ergänzte: »Wir haben uns doch immer geholfen«, traten ihm fast die Tränen in die Augen. Er schämte sich für seine Feigheit, aber es war ihm unmöglich,
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