Die Angst der Boesen
sie zu überwinden, und dafür schämte er sich noch mehr.
Lahm behauptete er: »Ist besser, wenn du’s nicht weißt.«
»Dann frag ich einfach Tatjana, wenn du nichts sagst.«
»Mach das. Wär mir echt lieber. Die haben mich auf dem Kieker, die können mich doch alle nicht ausstehen. Die suchen nur Gründe, um mich fertigzumachen. Du weißt, warum.«
Wenn er über seine altbekannten Probleme sprach, fühlte er sich wieder auf sicherem Boden und konnte den Gedanken an den Obdachlosen beiseiteschieben. Er fühlte sich nicht als einer der Täter; er war ja selber ein Unterdrückter, hatte seit der achten Klasse jeden Tag darum kämpfen müssen, dass er nicht unterging.
Lilly nickte stumm und nahm seine Hand. Ihre war warm und beruhigend. Er hielt sie gern fest, mochte es, dass die Finger sich gegenseitig streichelten. Lilly war ihm so vertraut: Da war zum Beispiel der Leberfleck, von dem sie gern erzählte, dass sie ihn seit ihrer Geburt als ihr ganz persönliches, unveränderliches Kennzeichen am Ringfinger habe. Lilly konnte aus einem Leberfleck etwas Kostbares machen und hatte auch Pauls Kindheit kostbar gemacht.
»Mir wird langsam kalt.«
»Du kannst gern wieder reingehen.«
»Und du?«
Er schüttelte den Kopf. Aber nur in dem dünnen Pulli, den er vorhin schnell gegen das blutige T-Shirt getauscht hatte, konnte er die Nacht auch nicht gut draußen verbringen. »Am liebsten«, sagte er, »würde ich nach Hause trampen.«
»Meinst du nicht, dass die sich schon wieder beruhigt haben? Ilkay ist doch eigentlich in Ordnung, und wenn ich mit Sven rede ...«
»Da freut er sich bestimmt«, fiel Paul ihr bitter ins Wort, »darauf wartet der doch nur. Sven und Lilly – die große Versöhnung eines Traumpaars.«
»Eifersüchtig?«
»Leck mich!« Paul zog seine Hand weg, rückte von ihr ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Typ macht mir mein Leben kaputt.«
»Nur noch ... warte« − sie zählte an den Fingern ab − »genau viereinhalb Wochen.«
»Das ist lang genug. Und geradezu lebensgefährlich, wenn ich an heute Nacht denke.«
»Leon ist auch noch da.«
»Leon ist sternhagelvoll. Der schläft seinen Rausch aus und kriegt gar nichts mehr mit.«
»Okay.« Ihre Hand berührte ihn wieder. »Ich glaube zwar wirklich nicht, dass sie dir heute Nacht was tun, aber ich versteh auch, dass du nicht aufs Zimmer willst. Nur: trampen ...? Das würd ich nicht so gerne.«
»Du sollst ja auch nicht mitkommen«, antwortete er wieder freundlicher.
»Ich werde dich nicht alleinlassen.«
»Danke, du bist süß.«
»Pass auf, ich hab ’ne Idee.« Lilly sprang plötzlich auf, hechtete die Stufen hoch, rief: »Warten Sie! Hallo! Hallo, Herr ... Herr Dingsda, warten Sie bitte!«
Verwundert sah Paul, wie sie über die Wiese auf das Seitengebäude zulief, in dem der Herbergswirt wohnte. Der war gerade dabei, ins Haus zu gehen, er stand nur noch vor der Tür, um seine Katze zu streicheln.
Der Mann sollte ihnen helfen? Sicher hatte er von ihrer Klasse nur den schlechtesten Eindruck. Erst hatte er sich über Müll im Garten beschwert, dann sprachlos vor dem kaputten Getränkeautomaten gestanden.
Lilly aber redete mutig auf ihn ein, als Paul sie einholte.
»Ich verstehe ja, dass Sie längst Feierabend haben. Sie brauchen auch gar nicht mit zum Hauptgebäude rüberzukommen. Sie sollen uns nur den Schlüssel für ein leeresZimmer geben. Die anderen dürfen davon nichts wissen; wir schließen uns da ein und schlafen dann sicherer.«
»Ihr habt eure Lehrer dabei. Die sind für Ordnung zuständig.«
Lilly verdrehte die Augen. »Sie wissen, dass die überfordert sind.«
Der Herbergsvater – Franke, stand auf seinem Klingelschild – seufzte. »Ja, allerdings. Ich denke ernsthaft darüber nach, nur noch Klassen mit Kindern aufzunehmen, keine Jugendlichen mehr.« Er musterte Paul. »Dir sehe ich schon ein bisschen an, dass du nicht zu denen passt.«
Paul wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Die Bemerkung war ihm peinlich, auch wenn sie wohl als Kompliment gedacht war.
»Wollen Sie uns nicht helfen?«, fragte Lilly ungeduldig. »Sie haben die Möglichkeit dazu. Wir sind kein Liebespärchen, wir wollen nichts ausnutzen und haben auch sonst nichts Schlimmes vor. Wir werden bedroht.«
»Ihr habt Alkohol getrunken.«
»Häää?«, machte Lilly so heftig, dass Paul fürchtete, sie würde gleich alles verderben. »Was spielt das für ’ne Rolle, he? Sehen wir besoffen aus?«
»Das nicht. Aber nüchtern seid ihr
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