Die Angst der Boesen
Feigling. Er wusste, es wäre seine Pflicht gewesen, etwas zu tun. Zumindest zum Friedhof zurückzulaufen und zu gucken, ob der Typ noch da war.
Aber was dann? Sollte er ihm etwa ein Pflaster in die Hand drücken? Sich entschuldigen? Einen Krankenwagen rufen und sich damit gegen seine Mitschüler stellen? Alles keine Lösung, oder?
Und was wäre erst, wenn Paul da ankam und der Typ tot war?
Oder wenn er noch lebte, sich aber nicht bewegen konnte und dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten, allmählich verreckte? Wenn er sogar morgen noch dort läge, hilflos, halb bewusstlos und kurz vorm Ersticken. Wenn niemand ihn fand, bis das große Auto kam, das ...
Plötzlich war Paul kotzübel. Er stand auf, lief zur Toilette und übergab sich. Als er zurück zum Zimmer schlich, hörteer im Treppenhaus ein Handy klingeln und kurz darauf Ilkays Stimme:
»Ja? – Ach, du bist ’s, Alter. Ist das deine neue Nummer? Ein Zweithandy ist immer gut, hat Levent auch. – Nee, den hab ich nicht gesehen. Ich guck jetzt mal, ob die Mädchen noch wach sind. – Was? Paul packt nicht aus. Der war’s schließlich, der ihm den Rest gegeben hat.«
Paul spürte, wie sich sein Magen ein zweites Mal aufbäumte.
Ilkay hatte recht: Auch er war schuldig.
Sonntag, 22. Mai
13
Gerd passierte das Ortsschild um Viertel nach zwei. Noch immer war er aufgekratzt und hellwach, kurvte mit heruntergelassenen Fensterscheiben durch die nächtlichen, menschenleeren Straßen. Nur ein magerer Igel wetzte vor seinem Auto von einem fantasielosen Garten in den nächsten.
Gerd hielt am Bahnhof. Er durchquerte die Halle, lief die Bahnsteige entlang. Martin war nicht zu finden.
Von einem Liebespaar, das auf einen Nachtbus wartete, ließ er sich erklären, wo die meisten Kneipen lagen, und brauchte bestimmt drei Stunden, bis er sie alle abgeklappert hatte – erfolglos.
Übermüdet suchte er sich ein Café, in dem er sonntagmorgens um sechs schon einen Kaffee und ein Brötchen bekam. Obwohl er vier Tassen trank, schlief er am Tisch fast ein und schaffte es erst gegen sieben, sich auf den Weg zu seiner letzten Station zu machen.
Ein einziger Ort war ihm noch eingefallen, an dem Martin sein könnte: der Friedhof.
Ein Jahr vor dem Tod ihrer Tochter waren Maries Eltern in den Norden gezogen und sie hatten gewollt, dass Marie in ihrer Nähe begraben lag. Um kurz vor acht hatte er das Grab endlich gefunden. Direkt am Grabstein steckte eineeinzelne rote Rose in einer Schnapsflasche. Martin war also hier gewesen.
Aber wo war er jetzt?
In der Hölle , hörte er zum x-ten Mal die Antwort des Jungen.
In der Hölle war Martin schon lange vorher gewesen, praktisch seit er mit dieser Hexe, die hier unter der Erde vergammelte, ausgerissen war und jeden noch so beschissenen Trip mitgenommen hatte. Was hatte der Junge alles an Gift geschluckt, geraucht und gespritzt. Aber diese Drogenhölle damals hatte Martin sich selbst ausgesucht. Das hier war etwas anderes. Es gab einen großen Unterschied zwischen selbst gewählter und aufgezwungener Hölle. Anderen ausgeliefert zu sein war das Allerschlimmste. Gerd wusste, wovon er sprach.
Er stieß einen Schluchzer aus, ausgerechnet vor dem Grab der Person, die er schon vor Jahren gern tot gesehen hätte. Er heulte über Martins schreckliches Schicksal und über sein eigenes beschissenes Leben, über seine eigenen Fehler und Gemeinheiten, über das, was er seinem Sohn angetan hatte, ohne es zu wollen. Er heulte über die Einsamkeit im leeren, mehr und mehr verkommenden Reihenhaus, den verlorenen Job, die ganze verdammte Ungerechtigkeit, die ihm widerfuhr, weil er sich oft nicht in der Gewalt gehabt hatte, weil er ein paarmal zu tief ins Glas geguckt hatte – mein Gott, die paarmal, die er ausgerastet war, die musste man ihm doch nachsehen.
Was er getan hatte, war nicht zu vergleichen mit dem, was die Jugendlichen gestern verbrochen hatten. Er hatte es nicht so gemeint und, verdammt, er wollte es ja wiedergutmachen. Hatte er nicht früher auch schon immer versucht, seine Ausraster wiedergutzumachen, Geschenke für den Jungen besorgt, ihn zum Fußball mitgenommen? Diesmalwollte er es ganz richtig machen, ein für alle Mal, fernsehtalkshowreif-richtig wollte er es machen.
Aber dazu brauchte er Martin.
Er hatte sich entschuldigt – und überhaupt, nur weil er war, wie er war, hieß das doch nicht, dass er sein eigen Fleisch und Blut nicht liebte, auch wenn er vielleicht nicht immer das Richtige getan hatte und Martin darunter
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