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Die Angst der Boesen

Die Angst der Boesen

Titel: Die Angst der Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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Gedenkstelle angekommen. Er fand die Zigaretten, suchte sich einen Sitzplatz, an dem er sich an die Schulwand lehnen konnte, strecktedie Beine aus, zündete sich eine an. Mit Blick auf das beeindruckende Meer aus Kerzenflammen sagte er langsam: »Alter, ich hab mir was vorgenommen seit der Abschlussfahrt. Nie mehr so viel saufen, dass ich nicht mehr weiß, was ich tu. Das wird mein Lebensprinzip. Nie mehr übers Limit, und wenn doch, dann nur zu Hause, wo nichts Unvorhergesehenes passieren kann. Obwohl: Ein Nachbar von uns hat mal im besoffenen Kopf eine Flasche Schnaps in sein Aquarium geschüttet. Wenn mir das bei meinen Tieren passieren würde, Schnaps im Wassernapf, das würd ich mir nie verzeihen.«
    »Warum erzählst du mir das alles?«, fragte Ilkay ungeduldig.
    »Weil’s Neuigkeiten gibt«, antwortete Leon, blies den Rauch aus und berichtete endlich, was er wusste.
    Ilkays Reaktion war kurz. »Scheiße.«
    »Du glaubst doch nicht im Ernst ...?«
    »Ich weiß es!« Die Stimme dröhnte ihm so ins Ohr, dass Leon zusammenzuckte. Dann erfuhr er von der Website.
    Während Ilkay ihm das Bild beschrieb, vermischten sich Erzählung, Erinnerung und Wirklichkeit. Vielleicht lag es auch am Alkohol, dass Leon das, was Ilkay erzählte, direkt vor sich sah: Er sah den Nachthimmel, nicht sternenklar, sondern wolkig und düster. Er sah die Kerzen, nicht fünf, sondern etwa vierzig, sah das Grabmal, nicht aus Stein, sondern aus schwarzen Schleifen, Fotos, Briefchen und Kuscheltieren.
    Während Ilkay ihm den Text von der Homepage vorlas, sah Leon zum ersten Mal auch den Obdachlosen wieder vor sich: den vom Alter her schlecht einzuschätzenden, groß gewachsenen Mann in seiner zerschlissenen, schmutzstarrenden Jacke. Leon roch seinen intensiven käsigen Geruch, in den sich allerdings auch eine Note Kokosshampoomischte, und bemerkte den verschlagenen, hyänenhaften Schleichgang.
    Der Gang war neu. Die Art, wie der Typ näher kam, hatte sich verändert. Sie war jetzt so wie bei Raubtieren, die sich an ihre Beute heranschleichen. Der durchdringende Blick der Augen war nicht länger unterwürfig, sondern sehr bedrohlich.
    Leon hatte an jenem Abend einen Filmriss gehabt, aber er konnte sich trotzdem gut erinnern, dass der junge Mann, der offenbar Martin hieß, ganz und gar Opfer gewesen war. Martin war einer, der schon früh zum Opfer gemacht worden war. Er hatte diese typische Haltung, sein ganzer Körper sagte: Mach mich fertig, du kannst es, denn ich bin schon fertig, ich finde mich selbst scheiße und wehre mich nicht.
    Der Penner da vorne war nicht Martin. Er roch nicht nur nicht nach Penner, er hatte auch die falschen Schuhe an: statt ausgetretener Stofflatschen neue Springerstiefel.
    Aber wer immer er auch war, er war real. Dieser Mann war keine Fantasie, er war da.
    Ilkay redete noch. Leon ließ seine Zigarette fallen, drückte sich hoch, stand – und stieß mit dem Rücken an die Schulwand.
    »Ilkay, ich muss Schluss machen.« Seine Worte kamen plötzlich gepresst, sein ganzer Körper war verkrampft, die Augen aufgerissen.
    »Leon?«
    Er hätte das Handy besser angelassen, aber automatisch hatte er Ilkay schon weggedrückt und nun blieb keine Zeit mehr, ihn zurückzurufen.
    Mit dem Rücken zur Wand bewegte er sich seitwärts wie eine Krabbe am Strand, mit kleinen, unsicheren Schritten, den Mann, der sich ihm näherte, fest im Blick.
    »Was wollen Sie?« Immerhin etwas. Leon redete. Ging verbal zum Gegenangriff über. Wenn’s denn überhaupt einen Angriff geben würde.
    Doch, das würde es. Der Mann kam näher und näher.
    »Ich will nur ’ne kleine Spende für ’nen Obdachlosen.«
    Auch die Stimme war nicht die gleiche. Sie war älter, sicherer und sagte nicht, was sie meinte.
    »Hau ab! Ich hab selbst nix.«
    »Du lügst.«
    Leon wusste: Er musste wegrennen, sofort. Aber das ging schlecht, die Schulwand, die hinter ihm einen Knick machte, behinderte ihn. Er hatte sich in die Ecke drängen lassen, die auf der einen Seite auch noch durch die Fahrradständer begrenzt wurde.
    Sein Handy klingelte, aber er konnte nicht rangehen, konnte den Mann nicht aus den Augen lassen.
    »Was wollen Sie, hauen Sie ab!« Ihm fiel nichts Neues ein und die Worte blieben ohne Wirkung. Ungeschickt bewegte er sich vorwärts. In den verflixten Fahrradständern war er wie gefangen.
    Der kalte Blick seines Gegenübers irritierte ihn, die lauter werdende Handymelodie auch. Er warf das Handy weg.
    Der Mann lächelte. »Angst? Ganz neues Gefühl,

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