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Die Angst der Woche

Die Angst der Woche

Titel: Die Angst der Woche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Krämer
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viel mehr, nämlich alle mit falsch positiver Diagnose, einen Schaden. Aus dem Grund raten viele Statistiker von Routine-Vorsorgeuntersuchungen für alle Frauen ab.
    Oder nehmen wir die Wohltaten des Aspirin. Jeder Leser dieser Zeilen weiß vermutlich dieses Wundermittel zu schätzen, es ist das erfolgreichste und in größten Mengen produzierte Arzneimittel aller Zeiten. Und jetzt soll es, wenn man jüngsten Zeitungsberichten glauben darf, sogar noch Krebs verhindern: Englische Ärzte hatten jahrzehntelang zwei Patientengruppen verfolgt. Die eine nahm täglich je ein Aspirin, die andere verzichtete darauf. Und siehe da: In der Aspirin-Gruppe starben 34 Prozent weniger an Krebs.
    Diese 34 Prozent wurden von den Medien als sensationelle Neuigkeit verkauft und haben die Bayer AG in Leverkusen sicher sehr erfreut. Sieht man sich dagegen die Zahlen näher an, so sind in der Aspirin-Gruppe 1,4 Prozent der Teilnehmer an Krebs gestorben, in der Kontrollgruppe 2,1 Prozent. Das absolute Risiko sinkt damit nur um 0,7 Prozent, rund 150 Patienten müssten über mehrere Jahrzehnte täglich Aspirin zu sich nehmen, damit bei einem davon ein Krebstod verhindert wird. Der positive Effekt von Aspirin ist damit klinisch völlig irrelevant.
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    Ein wichtiger Panikverstärker fehlt noch – unser Herdentrieb. Das Wort ist negativ belegt, bedeutet aber im Grunde etwas Gutes. Denn ohne diesen Herdentrieb gäbe es uns nicht mehr. Als unsere Vorfahren vor einigen Millionen Jahren die Urwälder Afrikas verließen und sich in der Savanne eine neue Heimat suchten, war der Zusammenhalt der Gruppe für das Überleben ganz zentral. Individualisten und Eigenbrötler hatten keine Überlebenschance; aus dem Grund ist in unserem Erbgut das Abweichen von der Mehrheitsmeinung überhaupt nicht vorgesehen.
    Heutzutage nennt man das auch die Intelligenz des Schwarms. Ein Fisch, eine Ameise sieht, riecht, hört weniger als 30 Fische oder 30 Ameisen, erst recht viel weniger als 3000 Fische oder 3000 Ameisen. Und das gilt für Menschenaffen ebenso. Wenn alle in der Gruppe denken, da hinten im Fluss, da schwimmt ein Krokodil, dann glaubst du das besser auch. Selbst wenn deine Augen dir sagen: Das ist doch nur ein Stück faules Holz.
    Dieses Vertrauen auf das Urteil der anderen, dieses Orientieren an der Mehrheit ist fest in unseren Genen verdrahtet, wir können sozusagen nicht anders, als uns danach auszurichten. Oder anders ausgedrückt: Umgang mit Risiko ist zum großen Teil auch ein soziales Phänomen. Aus der sozialen Netzwerkforschung etwa ist bekannt, dass Phänomene wie Übergewicht oder Alkoholismus ansteckend sind und sich in sozialen Netzen, über die Familie, über Nachbarn, über Freunde, über Freunde von Freunden usw. ausbreiten. Lehnt etwa ein Partner in einer Zweierbeziehung die grüne Gentechnik oder die zivile Nutzung der Kernkraft ab, so macht es der andere mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso – je enger Menschen zusammenleben, desto einförmiger scheinen ihre Einstellungen zu Gefahr und Risiko zu sein.
    Und das ist zugleich der wichtigste, durch die Evolution auf uns gekommene Grund, warum die eine oder andere Angst so oft in Massenhysterie ausartet. War das nicht frappierend, wie nach Weihnachten 2010 einer wie der andere vom Fernsehen befragte Passant oder Studiogast betroffen zugab – oder sollte ich besser sagen: stolz verkündete? –, wegen des Dioxins keine Eier mehr zu essen, und der Moderator oder der Reporter nickten zustimmend dazu? Abweichler von dieser Betroffenheitsorgie waren zumindest in den Medien nicht präsent. Diese Leute hatten wie Tausende Generationen von Menschenaffen vor ihnen erfolgreich ihre Gehirnzellen blockiert, um sich einer im Fernsehen, unter Freunden, im Kirchenchor oder am Stammtisch etablierten Mehrheitsmeinung anzuschließen.
    Aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts kennen wir die berühmten Studien von Psychologen in den USA, die hatten zum Beispiel ihren Studenten Holzklötze oder Bleistifte zum Abschätzen vorgelegt. Welcher Stift ist der längste? In jedem Fall stach ein Objekt klar heraus. Jetzt fragt man die Studenten der Reihe nach, alle hören die Antwort ihrer Vorgänger mit, und alle bis auf den letzten sind vorab instruiert: Gib das zweitgrößte Objekt als größtes an.
    Was sagt der Student, der als Letzter drankommt? Alle seine

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