Die Angst des wei�en Mannes
Zentralasien, wo der Widerstand der »Bas matschi« noch nicht ganz erloschen war, andererseits hegte er den Verdacht, Ma Zhongying könnte ein Agent des japanischen Gene ralstabs sein, der in jener Zeit zur Eroberung ganz Chinas ausholte. Am Weihnachtstag 1933 rückte die Rote Armee mit 2000 Solda ten in Urumqi ein. Xinjiang war von nun an ein Protektorat. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren Garnisonen der Roten Armee in Stärke von 40 000 Mann über die weite Region verstreut.
Im Jahr 1942 kam es zur spektakulären Wende. Die damaligen Ereignisse sind bis heute nicht voll aufgeklärt. Vermutlich brauchte Stalin zu jener Zeit jede kampffähige Division, um sie den Deut schen in der Schlacht von Stalingrad entgegenzuwerfen. Jedenfalls zog sich die Rote Armee mitsamt allen politischen Beratern im Herbst 1942 aus Xinjiang zurück. Ob jene unabhängige Republik Ost-Turkestan überhaupt existiert hatte, auf die sich die Oppositi onspolitikerin Rebiya Kadeer, die Präsidentin des uigurischen Weltkongresses, beruft, kann vermutlich nur diese ungewöhnliche Frau bestätigen, die Mitglied des Volkskongresses der chinesischen Kommunisten war, ehe sie einen im amerikanischen Exil lebenden uigurischen Nationalisten heiratete.
Jedenfalls schuf Mao Zedong unmittelbar nach Proklamation der Volksrepublik China im Jahr 1949 vollendete Tatsachen in der fernen chinesischen Westmark. Er ließ die Vierte kommunistische Feldarmee einrücken. Er befahl seinen ideologisch gedrillten Soldaten, an Ort und Stelle seßhaft zu werden und sich als Wehrbauern zu bewähren. Das geschah mit beachtlichem Erfolg. In der spröden Landschaft, die zur Taklamakan-Wüste überleitet, hat die Volksbefreiungsarmee blühende Agrarzonen geschaffen, wo vor allem Baumwolle geerntet wird. Die chinesische Einwohnerschaft Xinjiangs,die bei Machtantritt Mao Zedongs höchstens ein Viertel betrug, steht im Begriff, die dortigen Turkvölker zu überflügeln.
In den Jahren der großen politischen Wirren war die Westmark ein bevorzugter Ort der Verbannung für alle politisch unzuverläs sigen Elemente. Hier sollte laut Weisung des Großen Steuermanns auch das rote Mandarinat lernen, daß schwere körperliche Arbeit, die traditionell verpönt war, ein vorzügliches Mittel ideologischer Ertüchtigung sei. Die Rotgardisten sorgten nach Ausbruch der großen Kulturrevolution für einen zusätzlichen Strom aufbaufreu diger Pioniere. Seit in der Taklamakan-Wüste ergiebige Erdöl- und vor allem Erdgasvorkommen entdeckt wurden, reißt der Zu strom chinesischer Fachkräfte nicht ab.
Während meines Aufenthalts in Urumqi im Oktober 1995 war mir vom offiziellen chinesischen Propagandabüro eine Broschüre überreicht worden, die den historischen Anspruch Pekings auf die Westmark zu untermauern suchte. Einen Absatz daraus lohnt es sich im Wortlaut zu zitieren, weil dort – trotz aller Freundschafts beteuerungen gegenüber den Nachbarstaaten – die verjährt ge glaubten geographischen Ansprüche des Reiches der Mitte weit über die heutigen Grenzen hinaus erwähnt werden.
»Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts«, so schreibt der Autor Chen Dajun, »begannen die Kolonialmächte des Westens aktiv mit ihren Angriffs- und Expansionsfeldzügen. Von Indien aus wiegelten die Briten immer wieder die Nachfahren uigurischer Fürsten auf, die am Hofe des Khans von Kokand lebten, um in Süd-Xinjiang Unruhe zu stiften. Nach 1840 steigerten die westlichen Mächte ihre militärische Bedrohung, um die Qing- oder Mandschu-Dynastie zum Abschluß ungleicher Verträge zu zwingen. China wurde Schritt für Schritt auf den Status einer halbkolonialen Gesellschaft heruntergedrückt. Nachdem das zaristische Rußland die kasachische Steppe und die kleinen Emirate Zentralasiens besetzt hatte, nahm Sankt Petersburg auch weite Gebiete entlang der chinesischen Westgrenze in Besitz. Ein Territorium von 400 000 Quadratkilometern, östlich und südlich des Balkaschsees gelegen, der früher zu China gehörte, wurde durch das zaristische Rußland besetzt.«Das von Chen Dajun beschriebene Gebiet entspricht dem Kernland der heutigen Republik Kasachstan mitsamt ihrer früheren Hauptstadt Almaty.
Freitagsgebet bei den Uiguren
Schon fünfzehn Jahre früher, im Sommer 1980, war es mir ver gönnt gewesen, die zu jener Zeit noch streng abgeschirmte Provinz Xinjiang aufzusuchen und dort einen Dokumentarfilm zu produ zieren, dem ich den Titel »Chinas wilder Westen« gab. Damals war Urumqi ein grauenhafter
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