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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Platz. Dort lebten etwa eine Million Menschen, aber die niedrige, gedrängte Häusermasse, über der die Fernsehantennen in den rußigen Qualm ragten, sah wie eine im mense Siedlung von Höhlenbewohnern aus.
    Es war bemerkenswert, daß die chinesischen Behörden unser Ka merateam beim Filmen dieser Misere in keiner Weise behinderten. Wir konnten nach Belieben die Linse auf jene niedrigen Hütten der Industriearbeiter richten, die gegen die eisigen Winterstürme mit einer dicken Lehmschicht bedeckt waren und ihre Einwohner zur Existenz von Troglodyten verdammten. Bei unserer Suche nach muslimischen Gebetshäusern stießen wir auf die Verwüstungsspu ren der Rotgardisten. Die entfesselten jungen Fanatiker der Kul turrevolution hatten gegen die Muslime besonders heftig gewütet, sie zum Verzehr von Schweinefleisch gezwungen und viele treue Korangläubige erschlagen.
    Seitdem ist ein radikaler Wandel eingetreten. Aus den riesigen Elendsquartieren, aus der asiatischen Slum-Metropole Urumqi ist binnen fünfzehn Jahren eine saubere, hochmoderne Stadt von 1,5 Millionen Menschen geworden. Untergebracht sind wir dieses Mal, 1995, in dem luxuriösen Holiday Inn von Urumqi, der über Kom munikations- und Computereinrichtungen verfügt.
    Von unserem Fenster blicken wir auf eine moderne Industrie stadt,deren gepflegte Wohnviertel sich wohltuend von der Plattenbaumisere der früheren Sowjetunion unterscheiden. Vierbahnige Asphaltstraßen erleichtern den Autoverkehr, der beachtliche Ausmaße angenommen hat. Die Warenhäuser quellen über von vielfältigem Angebot. Die Menschen sind wohlgenährt und gut gekleidet. Das Wort Wirtschaftswunder ist in Urumqi durchaus angebracht. Die Sinisierung hat sich scheinbar durchgesetzt.
    Um keiner Täuschung zu erliegen, habe ich verlangt, nach Kaschgar reisen zu können. Diese weit im Süden, am Fuße des Karakorum-Gebirges gelegene Oase galt weiterhin als eine Hochburg des uigu rischen Nationalbewußtseins und der islamischen Religiosität. Ihren orientalischen Charakter hatte sie damals noch im wesentlichen be wahrt, aber hier überlebte nur eine schäbige Exotik. Die Bevölkerung in dem Grenzdistrikt war zu fast neunzig Prozent uigurisch und mus limisch geblieben. Die religiöse Rückbesinnung gewann – laut Aus sage meiner chinesischen Gewährsleute – zunehmend an Gewicht.
    Als zentrales religiöses Zentrum fungierte weiterhin die Id-Kah-Freitagsmoschee, die den alten Basar beherrschte und angeblich auf das Jahr 1442 zurückgeht. In den modrigen Gassen begegneten wir keinem Angehörigen der Han-Rasse. In diesen Vierteln kapselte sich das uigurisch-islamische Kaschgar von den fremden, stets be vormundenden Eindringlingen aus dem gelben Osten ab. Es lag so gar Spannung in der Luft. Gelegentlich sollte es zu Attentaten einer »islamischen Bewegung Ost-Turkestans« kommen. Bei den Ein heimischen spürte man eine latente Feindseligkeit. Unsere chine sischen Betreuer schienen ernsthaft um unsere Sicherheit besorgt zu sein. Die Rückkehr zur koranischen Frömmigkeit äußert sich oft auf betrübliche Weise. Viele Frauen gehen hier unter groben, rot braunen Wolltüchern vermummt, die sie sich über den Kopf stül pen und die das Gesicht total verdecken.
    Zur Stunde des Freitagsgebets hatte ich mich mit einem gemurmelten »bismillah rahman rahim« unter die Gläubigen der Id-Kah-Moschee gemischt. Sie hielten mich wohl für einen Türken und räumten mir bereitwillig einen Platz im vorderen »soff« ein. Mindestens 3000 Männer waren zusammengekommen, ausschließlich Uiguren.Ein junger Mann mit blauen Augen nahm sich meiner freundlich an. Er gab sich als »Talib«, als Koranstudent, zu erkennen.
    Das Ritual nahm seinen gewohnten Gang. Beter aller Altersklas sen waren hier vertreten. Die meisten von ihnen mußten in sehr ärmlichen Verhältnissen leben. In dieser Gemeinschaft fühlte ich mich durchaus geborgen, aber meine chinesischen Begleiter, die mich aus den Augen verloren hatten, gerieten in Panik. Man be fürchtete wohl weniger einen konspirativen Kontakt, den ich zu renitenten Islamisten suchen könnte, als meine Entführung durch irgendeine Untergrundorganisation.
    Ich wurde in ein Verwaltungsgebäude der »islamischen Direk tion« abgedrängt, die offenbar eine Überwachungsfunktion ausübte. Mein Gesprächspartner war ein unsympathischer Uigure mittleren Alters, der sich als »politisch Verantwortlicher«, als »mas’ul as siassi« der Chinesisch-islamischen Vereinigung von Kaschgar vor

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