Die Angst des wei�en Mannes
harmlosen, einfältigen Naturkinder erschienen ihm als Ausge burten der Finsternis mit ihren Tätowierungen und ihrem künstlich gebleichten Haar. Er traute ihnen zu, plötzlich ein langes Messer zu zücken und es ihm zwischen die Schulterblätter zu bohren. »Wer konnte schon sagen, welche dunklen Absichten hinter ihren weit auseinanderstehenden Augen brüteten«, so steigerte sich der Eng länder in seine Phobie. »Die Eingeborenen erinnerten an die Fres ken aus uralten ägyptischen Tempeln. Ein Schauder ging von ihnen aus, der unermeßlich alt wirkte.«
Die Erzählung »Rain« rankt sich um die Person des amerikanischen Missionars Davidson und dessen bigotte Frau. Diese prote stantischenPrediger verfügten über eine lange berufliche Erfahrung, die sie in der geistlichen Bevormundung der melanesischen Bevölkerung des Salomon-Archipels erworben hatten.
Im späten neunzehnten Jahrhundert waren die Südseeinsulaner dem moralisierenden Zwang, den prüden Vorschriften, dem sek tiererischen Puritanismus der christlichen, überwiegend angelsäch sischen Prediger und Heilsverkünder hilflos und wehrlos ausge liefert. Deren frömmelnder Selbstgerechtigkeit, die Somerset Maugham am Beispiel Mr. und Mrs. Davidsons darstellt, waren keine Grenzen gesetzt. Es lohnt sich, ein paar Passagen aus den Gesprächen zu zitieren, die der Reverend Davidson mit seinem zu fälligen Reisegefährten, dem Arzt Macphail, führte.
»Als wir bei den Eingeborenen ankamen«, so dozierte der Mis sionar, »wußten sie gar nicht, was Sünde war. Sie vergingen sich ge gen sämtliche christlichen Gebote, ohne überhaupt zu ahnen, daß sie Schuld auf sich luden. Der schwierigste Teil meiner Bekehrungs arbeit bestand wohl darin, den ›natives‹ erst einmal das Bewußtsein für Sünde einzuflößen.«
Mrs. Davidson ihrerseits erblickte ihren vornehmsten Auftrag dar in, den halbnackten Wilden westliche Kleidung zu verpassen. So wurden die eingeborenen Frauen angehalten, sich viktorianisch im »Mother-Hubbard-Stil« zu kostümieren. Der Lapa-Lapa-Schurz war verpönt. »Die Bewohner dieser Insel«, befand die energische Dame, »werden so lange nicht gründlich christianisiert sein, ehe nicht jeder Knabe vom zehnten Lebensjahr an eine Hose trägt.« Vor allem die erotisch-suggestiven Tänze der Eingeborenen waren den Davidsons ein Greuel. Sie sahen darin den Gipfel öffentlicher Immoralität. »Ich danke Gott«, so rühmte sich die Missionarin, »daß wir ihnen diese skandalöse Lust am Tanz ausgetrieben haben.«
»Mit Fug und Recht kann ich behaupten«, betonte auch Mr. Davidson, »daß wir ihnen diese Unsitte so gründlich ausgetrieben haben, daß während meines fünfjährigen Aufenthalts auf den Salomonen kein einziger der von mir betreuten Melanesier mehr zu tanzen wagte.« Der Arzt Macphail, der ein vernünftiger Mann war, hatte diesen Auswüchsen religiösen Eifers mit wachsender Verwunde runggelauscht. Wie es denn möglich gewesen sei, eine so extreme Strenge durchzusetzen, fragte er.
»Wir haben ein ausgeklügeltes System von Geldbußen entwor fen, das auch das Fernbleiben vom Gottesdienst unter Strafe stellt«, erklärte der Reverend. In Fällen hartnäckiger Weigerung würden die Sünder aus der kirchlichen Gemeinde ausgeschlossen. Der Kir chenbann habe sich wie eine gesellschaftliche Ächtung ausgewirkt. Den Schuldigen sei damit jede gewerbliche Tätigkeit entzogen, ja sie seien dem Elend ausgeliefert worden.
Der Bericht Somerset Maughams nimmt ein tragisches, abscheu liches Ende. In der kleinen Gruppe von Angelsachsen, die in Pago Pago auf die Weiterfahrt zu unterschiedlichen Zielen warten, ist auch Ms. Thompson. Diese vulgäre Pensionärin eines Bordells in San Francisco, die das Ehepaar Davidson in helles Entsetzen ver setzt, befindet sich auf der Durchreise nach Sydney und versucht aus irgendeinem Grunde, den Justizbehörden Kaliforniens zu ent rinnen. Der Missionar überwindet seinen Ekel, er verhindert die Abreise der öffentlichen Sünderin in Richtung Australien und pre digt tagelang so eindringlich und beschwörend auf sie ein, daß sie sich zum Verzicht auf ihr Lotterleben und zur Rückkehr nach San Francisco bereit erklärt.
Jedoch es kommt anders. Am Ende seiner moralischen Auf rüstungsarbeit verfällt nämlich der Tugendbold dem ordinären Charme der zerknirschten Hure, läßt sich zur entsetzlichen Sünde des Fleisches hinreißen. Der Arzt Macphail entdeckt seine Leiche an einem trüben Morgen am Strand von Pago Pago. In
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