Die Angst des wei�en Mannes
und einer neu entwickelten Dynamik jedoch die Balance zu ihren eigenen Gunsten verschieben könnte.
Die Gretchenfrage, die diesseits des Atlantiks an Obama gerichtet wird, lautet bereits: »Wie hältst du es mit Europa?« Ob er die atlantische Präferenz weiterführen wird, für die sich seine sämtlichen Vorgänger entschieden hatten, ob er Europa instinktiv eine Priorität einräumen wird, die bislang der Leitfaden amerikanischer Außenpolitik war? Berührungspunkte zum alten Kontinent hat es in seinem CurriculumVitae kaum gegeben, und vielleicht hat ihn der hemmungslose Jubel von 200 000 Berlinern vor der Siegessäule im Tiergarten ähnlich befremdet, wie das angeblich bei John F. Kennedy der Fall war, als dessen Erklärung »Ich bin ein Berliner« einen Begeisterungstaumel auslöste, der eines Reichsparteitages würdig war.
Bevor er zu den renommiertesten Universitäten der Ostküste, Columbia und Harvard überwechselte, hatte er im Occidental Col lege am Nordrand von Los Angeles eine überaus liberale Bildungs stätte besucht, wo weiße, schwarze, asiatische und hispanische Alumni in brüderlicher Gemeinschaft Kundgebungen gegen die Apartheid in Südafrika veranstalteten und »Barry«, wie er auch dort hieß, die Gelegenheit verschafften, im Februar 1981 seine erste po litische Rede zu halten. An den Universitäten der pazifischen Küste der USA herrscht wohl eine besondere Mentalität vor. Wo sonst wäre den Studenten eine Dissertation zu dem Thema abverlangt worden: »Wie haben unterschiedliche Gesellschaften ihre Vorstel lungen von Gerechtigkeit vom Sakralen und von der Wahrheit de finiert?« Dort hatten sich auch die asiatischen Einwanderer, Chi nesen und Inder, längst in den Führungsebenen des wirtschaftlichen Managements durchgesetzt, und die Scholaren aus dem Reich der Mitte schlossen die besten Examen ab.
Wer erinnert sich heute noch daran, daß vor einem halben Jahr hundert nicht nur die Farbigen, sondern auch die Katholiken in »God’s Own Country« als minderwertige, obskurantistische Son derkategorie, als »Papisten« geschmäht wurden? Inzwischen ist die römische Kirche mit fünfzig Millionen Gläubigen zur weitaus stärksten christlichen Denomination in USA angewachsen, und kein Politiker kann dieses Wahlpotential ignorieren.
Auch in der »Jewish Community«, die etwa zwei Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmacht, hat sich eine geradezu verblüffende Umwälzung vollzogen. Nicht nur in den Südstaaten herrschte vor gar nicht langer Zeit ein ausgeprägter Antisemitismus vor. Selbst in den Wirtschafts- und Industriezentren des Nordens galten Juden als Außenseiter, hatten keinen Zugang zu den elitären »Country Clubs«, wurden sogar in zahlreichen Hotels als uner wünschteGäste abgewiesen. Um sich gegen die etablierten protestantischen Großbanken durchsetzen zu können, die sich auf die calvinistische Ethik beriefen, taten sich die jüdischen Finanzunternehmen, die man auf bescheidenem Niveau halten wollte, extrem schwer, um am Ende ihre Rivalen auf den zweiten Rang zu verweisen.
Heute verfügt die israelitische Minderheit in allen Bereichen des ökonomischen, aber auch des intellektuellen Lebens und der wissen schaftlichen Forschung über Spitzenpositionen und übt einen poli tischen Einfluß aus, der den Kritikern der »Jewish lobby« absolut disproportioniert und unerträglich erscheint. Auf dem Umweg über die biblischen Heilserwartungen, die die Gründung des Staates Is rael bei den protestantischen Evangelikalen weckte, haben sich pa radoxerweise gerade jene sektiererischen Gegner des Judentums als zuverlässigste Verbündete des Zionismus erwiesen und stehen der jeweiligen Regierung von Jerusalem fast bedingungslos zur Seite.
Den Kassandrarufen, die aus Europa über den Atlantik tönen und die den Vereinigten Staaten einen unaufhaltsamen Abstieg voraus sagen, wird oft entgegengehalten, daß der Prozentsatz der Euro päer an der Gesamtbevölkerung des Globus binnen relativ kurzer Frist von zwanzig Prozent auf vier Prozent geschrumpft sei und daß die Überflutung des Abendlandes durch afrikanische und orienta lische Migranten die Form einer Völkerwanderung anzunehmen drohe. Dem könnte eine nüchterne und deprimierende Analyse der Verhältnisse in der Neuen Welt entgegengehalten werden.
Samuel Huntington, der durch seine düsteren Prognosen vom Clash of Civilizations berühmt wurde, hat in seiner letzten Studie Who are we? einen beschwörenden Appell an seine weißen und
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