Die Anklage - Ellis, D: Anklage - Breach of Trust
Freund drohen?« Das kam von dem Größeren der beiden Typen, dem mit dem zerrissenen Tanktop. Aus der Nähe erspähte ich das Tattoo eines winzigen Dolchs auf der Innenseite seines Oberarms. Er war also ein Mitglied der Latin Lords. Er sprach nur mit dem Hauch eines Akzents. Vermutlich war er als Kind zweisprachig aufgewachsen.
Wir standen dicht voreinander und ich überragte ihn um ein gutes Stück. Ich war über eins neunzig, und er war bestenfalls eins sechzig. Er hatte breite Schultern, schwellende Muskeln, ein Narbe auf der Stirn und ein dünnes Kinnbärtchen. Er war gemeiner und härter als ich, aber nur einer von uns beiden wusste das mit Bestimmtheit. Ich blickte auf ihn herab, und wir starrten uns eine ganze Weile in die Augen, bis ich drei Worte ausstieß und mein Tonfall keinen Zweifel daran ließ, dass ich sie nur einmal sagen würde: »Treten. Sie. Zurück.«
Das brachte ihn für einen Moment aus dem Konzept. Er hatte eigentlich mit meinem Rückzug gerechnet. Jetzt versuchte er, mich von neuem einzuschätzen. Meiner Erfahrung nach respektieren die Gangs weiße Männer im Anzug auf ihrem Territorium, weil sie damit rechnen, dass es sich um Bundesbeamte handelt. Dieser Kerl musste davon ausgehen, dass ich FBI-Agent war.
»Oye«, sagte Ernesto und legte eine Hand auf den Arm seines Freunds. »Permitame.«
»Buen consejo«, sagte ich. »Hören Sie auf Ernesto und treten Sie zurück.«
»Sie können mich nicht zwingen, etwas zu sagen, das ich nicht sagen will«, erklärte Ernesto.
Langsam löste sich mein Blick von Ernestos Freund und heftete sich auf Ernesto. »Ich kann Sie in den Zeugenstand berufen und Ihnen den lieben langen Tag Fragen stellen. Und ich weiß auch schon, über was. Früher oder später finde ich heraus, was ich wissen will. Wenn Sie lügen, dann merke ich das. Und wenn Sie sich weigern zu antworten, dann wandern Sie wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis.«
»Nein«, wiederholte er. »Sie können nicht einfach …«
»Ich kann und ich werde es tun. Meine Visitenkarte steckt mit in dem Umschlag. Meine Handynummer ebenfalls. Entweder Sie reden vorher mit mir, oder ich seh Sie vor Gericht wieder.«
Es war mein letzter Versuch. Anschließend fuhr ich zurück in mein Büro. Mir war nicht ganz wohl bei dem, was ich getan hatte, aber mir blieb keine andere Wahl. Vielleicht würde ihm das erzwungene Geständnis ja helfen, den inneren Konflikt zu lösen, der ihn ganz offensichtlich plagte. Ich hatte gewissermaßen eine Entscheidung in seinem Namen getroffen. Eine Zwangsvorladung des Bundesgerichts konnte man nicht ignorieren. Mit dem Rücken zur Wand würde er vielleicht die Wahrheit sagen und mit sich ins Reine kommen. Vielleicht.
Mein Handy klingelte, als ich den Highway in Richtung Geschäftszentrum verließ. Der Verkehr um vier Uhr nachmittags an einem Freitag war die Hölle. Das Klingeln erinnerte mich an unseren Ausflug zu Talias Eltern am Abend. Doch der Anruf stammte nicht von Talia. Er kam von Ernesto Ramirez.
»Hallo«, sagte ich so unaufgeregt wie möglich.
»Sie haben mir neulich ein Angebot gemacht. Ich sage Ihnen, was ich weiß, und Sie halten mich aus der ganzen Sache raus.«
»Richtig, das hab ich gesagt. Aber je länger Sie damit zögern, desto schwieriger wird es für mich, die Informationen einzusetzen, und desto dringender brauche ich Ihre Zeugenaussage vor Gericht.«
»Was soll das hei…«
»Das heißt, am besten sagen Sie es mir gleich, Ernesto. Jetzt sofort.«
Es entstand eine Pause. Ich stand unter Hochspannung. Nun würde er endlich auspacken.
»Nicht am Telefon«, sagte er.
»Okay«, erwiderte ich und versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Das war der Durchbruch. Ruhig und entspannt bleiben, so lautete jetzt die Devise. »Wo und wann?«
»Später heute«, sagte er. »Ich muss einen Weg finden. Aber keine Telefone. Unter vier Augen.«
»Dann finden Sie einen Weg, und zwar schnell. Ich kann Sie überall treffen. Aber lassen Sie mich nicht warten, Ernesto«, mahnte ich ihn. »Lassen Sie mich nicht warten.«
9
Ich legte auf und versuchte meine Erwartungen zu dämpfen. Er schien bereit, sich mit mir zu unterhalten, aber bislang war es nur ein Versprechen, mehr nicht. Trotzdem, je länger er zögerte, desto wertvoller erschien mir seine Information, desto höher stiegen meine Hoffnungen, als wären sie mit Helium gefüllt.
Talia rief mich auf dem Handy an, während ich gerade zurück in mein Büro marschierte. »Hi, Babe«, meldete ich mich.
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