Die Anklage - Ellis, D: Anklage - Breach of Trust
polierte Wahlkampfausstrahlung, gleichzeitig wirkte er leicht derangiert, als lastete etwas auf seinen Schultern. Die großen Wahlkampfereignisse des Tages waren vorüber, die letzten Stunden vor Mitternacht näherten sich, und ihm schien zu dämmern, welch erstaunliche Macht er in Händen hielt.
Vermutlich hatte er in seiner einjährigen Amtszeit bisher nie einen solchen Moment erlebt. Er war ein Hinterbänkler gewesen, ein Vizegouverneur, der nicht viel zu tun hatte. Und dann plötzlich, innerhalb von wenigen Wochen, war er zum wichtigsten Entscheidungsträger des Staats geworden. Wahrscheinlich kam ihm das alles vor, als wäre er von einem Wirbelwind emporgetragen worden wie in einem Traum. Plötzlich brachten sie jede seiner Äußerungen in den Nachrichten, seine öffentlichen Auftritte waren gut besucht, alle wollten etwas von ihm. Und niemand zweifelte daran, dass er als Gouverneur eines Bundesstaats im Mittleren Westen, der erst Mitte vierzig war und volles Haar hatte, Ambitionen auf das Präsidentenamt hegte.
So etwas war nicht leicht zu verkraften. Sicher hatte er vorher schon folgenreiche Entscheidungen getroffen, aber dabei war er stets von Profis beraten worden; sie hatten für ihn den großen Kurs und – fast noch wichtiger – die kleinen politischen Details festgelegt. Doch diese Situation hier war anders. Seine Berater konnten ihm hundertmal die strategisch richtige Linie vorkauen – das änderte nichts an der Tatsache, dass
das Leben eines Menschen davon abhing, ob der Gouverneur das schwarze Telefon abhob oder nicht.
»Wir haben viel zu tun, lasst es uns anpacken«, sagte Madison. Ebenso wie Peshke versuchte sie von dem Thema abzulenken, das die Gedanken des Gouverneurs in Beschlag zu nehmen schien. Einerseits hatte sie recht, denn alle hatten bereits ihre Plätze für die abendliche Besprechung der Nach-Kampagnen-Strategie eingenommen, andererseits lag sie völlig daneben. Denn voraussichtlich war dies der letzte Abend, an dem die Gruppe in dieser Konstellation zusammentreffen würde. Bis auf Bill Peshke, der sich meines Wissens nach nichts hatte zuschulden kommen lassen, würden alle in diesem Raum morgen verhaftet werden, die einzige weitere Ausnahme bildete möglicherweise Gouverneur Snow.
Madison und Peshke präsentierten die Umfrageergebnisse (Snow hatte nach wie vor einen Vorsprung von sechs Prozentpunkten vor Wille Bryant), die Spendenstatistiken (Snows Wahlkampfkasse füllten 2,2 Millionen verglichen mit Bryants 1,3 Millionen), sowie die vorgesehenen TV-Sendeplätze am letzten Tag vor den Vorwahlen. Gouverneur Snow schwieg die meiste Zeit, warf nur gelegentlich ein paar laue Worte der Ermunterung in die Runde, während seine Augen über die Köpfe aller hinweg ins Leere starrten. Wie üblich floss der Alkohol in Strömen – diese Leute hatten es wirklich raus, im Rausch arbeitsfähig zu bleiben –, nur der Gouverneur trank nichts.
Rasch war eine Stunde verflogen. Als ich auf die Uhr blickte, war es bereits kurz vor zehn. Laut Chris Moodys Anweisungen sollte ich die Gruppe und vor allem den Gouverneur in Diskussionen über unsere illegalen Machenschaften verstricken. Doch ich saß nur schweigend dabei. Ich beobachtete den Gouverneur, versuchte schlau aus seinem Verhalten
zu werden und hoffte – wie mir jetzt aufging –, dass er nicht der Mensch war, für den das FBI ihn hielt.
»Okay, der Fahrplan für morgen«, sagte Madison. »Um acht Uhr das Gebetsfrühstück in der Newport Baptist Church. Neun Uhr dreißig dann das Frauenhaus drüben in Boughton. Zehn Uhr dreißig die Unterzeichnung des Krankenversicherungsgesetzes für autistisch Erkrankte. Um elf Uhr dreißig reichen wir die Urkunde für die Berufung von Richter Ippolito ein und geben die Presseerklärung raus. Pesh hat die Erklärung und das überarbeitete Informationspapier, das Jason verfasst hat.«
Also hatte Chris Moody recht gehabt – die Berufung von Ippolito würde tatsächlich morgen über die Bühne gehen. Das bedeutete, Moody hatte außer mir noch weitere Überwachungsmöglichkeiten. Vermutlich verfügte er inzwischen sogar über diverse Informationenquellen — und es ärgerte ihn grün und blau, dass er jetzt abbrechen und die Verhaftungen durchführen musste. Ich fragte mich, ob er tatsächlich zuschlagen würde. Zwar hatte Moody angedeutet, heute Abend wäre möglicherweise die letzte Gelegenheit, aber ich konnte ihm nicht vertrauen. Ich konnte niemandem vertrauen.
»Mittags dann eine Spendengala mit
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