Die Ankunft
genug. Was da herumzappelte, war kaum die Reise auf das offene Meer wert. Aber vielleicht wendete sich das heutige Schicksal ja noch zum Guten.
Jetzt konnte er ebenfalls erkennen, was sein Sohn mit seinen besseren Augen ausgemacht hatte. In der Tat, ein Schiff, und ein großes dazu. Die Form allerdings … und die Farbe … je deutlicher das Bild wurde, desto mehr sanken die Hoffnungen des Fischers und Angst machte sich in ihm breit.
Marcellus war still geworden. Sehr still. Seine Augen waren geweitet, sein Mund offen. Er klammerte sich an die Bordwand und wischte sich ein-, zweimal über die Stirn, als wolle er ein Trugbild vertreiben. Marcus nahm es ihm nicht übel.
So etwas hatte er noch nie gesehen. Von so etwas hatte er noch nie gehört. Selbst die wildesten Geschichten in den Tavernen hatten nie von einem solchen Schiff gesprochen. Dies war nicht wirklich. Dies war nicht natürlich. Neptun musste sich einen Scherz mit ihm erlauben – für einen Moment hatte Marcus seine gute christliche Gesinnung vergessen.
Neptun schwieg zu der Vermutung. Mittlerweile war das Schiff bis auf gut 200 Meter an Marcus' Fischerboot herangekommen. Es war groß, groß wie eine der Getreidegaleeren, aber es wirkte mächtiger, bedrohlicher. Es schien ganz aus Eisen gefertigt, und obgleich es Masten trug, sah Marcus keine Segel. Da waren lange, metallene Röhren, die aus der Mitte des Schiffskörpers ragten, und daraus stießen dunkle, regelmäßige Rauchfahnen in den windstillen Himmel. Das Schiff brannte nicht, das erfasste Marcus sofort mit untrüglicher Intuition. Es brannte womöglich ein Feuer in dem mächtigen Rumpf, jedoch war dies beabsichtigt, kein Unglück, und Hilfe war hier nicht vonnöten.
Oder doch?
Marcus kniff die Augen zusammen. Er konnte niemanden von der Besatzung ausmachen. Keine Seele bewegte sich auf dem Deck des Ungetüms, das ohnehin von seiner Warte aus kaum einsehbar war. Wieder wollte die Angst von ihm Besitz ergreifen. War dies ein Geisterschiff, ein Sendbote der Unterwelt, ein Fluch, der Seeleute auf hoher See heimsuchte und in das Jenseits locken wollte?
»Vater, da liegt jemand!«
Die seltsam gefasste Stimme seines Sohnes – klang da nicht sogar Neugierde durch? – holte ihn aus seinen Gedanken. Er schaute genauer hin. Die Entfernung verringerte sich zusehends. Ja, Marcellus hatte richtig gesehen: Die Besatzung war da – zumindest erkannte er jetzt zwei Männer, regungslos an eine Reling gelehnt, wie tot. Er sah nur wenige mehr, sie alle wirkten, als seien sie mitten im Lauf umgefallen, niedergestreckt durch einen plötzlichen Feind. Doch nirgends waren die Zeichen eines Kampfes zu erkennen, keine Beschädigungen, keine Waffen oder Pfeile – nichts deutete auf einen Überfall hin. Wahrscheinlich lagen noch mehr auf dem schwer einsehbaren Deck.
»Vater, was machen wir?«
Marcus schaute seinem Sohn in die Augen. Die Sorge um sein einziges Kind drohte ihn zu überwältigen. Dann übernahm wieder kühle Kalkulation seinen Verstand. Für einen Fischer wie ihn stellte das Leben nicht allzu viele Chancen bereit. Ob Gottes Fügung oder Fortunas Lächeln, er konnte sich jetzt nicht einfach in die Riemen legen und davonrudern. Er spürte eine seltsame Faszination, die von diesem mächtigen Schiff ausging, und so, wie die Seeleute da auf dem Deck lagen, teilweise über die Reling gelegt wie schlafend, wollte sich kein rechtes Gefühl der Bedrohung mehr einstellen.
Schließlich obsiegte die Neugierde. Und die Gier. Es war im Grunde egal. Die Entscheidung lag auf der Hand.
»Wir rudern heran, mein Sohn«, befahl Marcus. »Sieh dort, ein Seil hängt bis an die Wasserlinie hinab. Traust du dir zu, daran emporzuklettern?«
Marcellus nickte eifrig.
»Und dort, das sieht wie eine Strickleiter aus, aufgerollt und bereitliegend.« Marcus wies auf eine andere Stelle der Reling. »Wenn du es bis dahin schaffst, es wirklich eine Leiter ist und du sie fallen lässt, binde ich unser Boot daran und komme zu dir an Bord. Dann schauen wir uns das mal genau aus der Nähe an.«
»Ja, Vater«, stimmte sein Sohn erstaunlich folgsam, ja eifrig zu. Die Faszination des Neuen und Ungewohnten hatte jeden Zweifel, jede Angst aus dem Bewusstsein des Jungen fortgewischt.
Sie taten wie geplant. Bald hatte das Fischerboot das Seil erreicht und Marcellus schlanker Jungenkörper, voller Kraft durch die harte Arbeit auf See, kletterte wie ein geölter Blitz das Tau empor, sich mit Händen und Füßen hochziehend und -drückend. Schnell hatte er
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