Die Ankunft
einen Augenblick, was das für ein Gefühl war, alleiniger Kaiser über das gesamte Römische Reich zu sein. Dann dachte er an berühmte Vorgänger wie Trajan oder Diokletian oder seinen Vater Valentinian zurück und fühlte sich mit einem Male von der Kraft der Erinnerung und den Taten seiner Vorväter wie erdrückt. Selbst das Reich unter Diokletian war ein anderes gewesen als das, was er nun regierte. Seine Reformen hatten dazu beigetragen, dass es noch existierte, doch mehr und mehr wurde der Geist seiner Politik untergraben und Gratian wusste mit jedem Tag weniger, was er dagegen tun konnte. Wäre die beständige Bedrohung der Grenzen nicht gewesen, vielleicht hätte er endlich die Ruhe und die Machtmittel, das Reich von innen her zu stabilisieren. Bloß wurde seine ganze Energie dadurch aufgebraucht, von einem Schlachtfeld zum nächsten zu ziehen.
Er erinnerte sich an einen Spruch, der Marcus Aurelius, dem Philosophen unter den Kaisern, zugesprochen wurde: »Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut. Wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er kann, der befiehlt es.« Diese Aussage verfolgte ihn seit dem Zeitpunkt, da ihm Ausonius aus den Werken des alten Kaisers vorgelesen hatte. Wenn er, Gratian, durch Unterlassung Unrecht tat, dann war jedes Zögern ein weiterer Schritt in den Abgrund. Doch wenn er aus Voreiligkeit die falsche Entscheidung traf, dann konnte die Katastrophe viel größer sein. Gratian hatte seinen Stiefonkel Valens respektiert, da dieser noch von seinem Vater eingesetzt worden war und als der Ältere Respekt verdiente. Dennoch hatte er nie daran gezweifelt, dass Valens' Zaudern und dessen Abhängigkeit von den Ratschlägen seiner Berater – wohlmeinender Offizieller wie Scharlatane – einmal sein Untergang sein würde. Dass es diesmal Voreiligkeit und Unbeherrschtheit gewesen waren, klang wie jene Art von Ironie des Lebens, für die Marcus Aurelius immer größtes Verständnis gehabt hatte. »Es wäre dumm, sich über die Welt zu ärgern«, murmelte Gratian versonnen.
»Sie kümmert sich nicht darum.« Eine weitere Einsicht des alten Kaisers. »Elevius?« Wie aus dem Nichts hingezaubert erschien der alte Leibdiener. »Ihr habt gerufen, Herr.« »Ich werde mich früh zur Ruhe legen.« »Ihr bedürft der Ruhe.« »Ich muss in der Tat über vielen nachdenken. Bereite mein Lager und …« Gratian zögerte. »… und hole aus meiner Truhe meine Ausgabe von Marcus Aurelius' Selbstbetrachtungen. Ich habe das Bedürfnis, von der Weisheit meiner Vorväter zu lernen.« Elevius verbeugte sich.
22
Thomas Volkert war bleich. »Leichenblass«, hätte so mancher gesagt. Es hatte nicht gereicht, dass Kapitän Rheinberg ihn persönlich zum Rapport einbestellt hatte, um ihn unter vier Augen langzumachen. Nein, er hatte dies vor den versammelten Offizieren machen müssen. Seine Ansprache war durchaus knapp gewesen. Er hatte Worte wie »Verantwortungslosigkeit« und »Leichtsinn« benutzt und das waren noch die höflichsten Ausdrücke gewesen. Er hatte deutlich gemacht, was er von Volkerts Dummheit hielt, und er hatte ihm vollständigen Arrest auf dem Schiff und drei Wochen Doppelschichten aufgebrummt. Als der Fähnrich sich mit rotem Gesicht hatte setzen dürfen, war das Gespräch sofort auf andere Themen gelenkt worden, wofür Volkert durchaus dankbar gewesen war. Aber die verstohlenen, teils schadenfreudigen Blicke seiner Kameraden schmerzten. Er brauchte einige Minuten, um sich darüber klar zu werden, dass der größte Schmerz durch die Tatsache ausgelöst wurde, dass er keine Chance hatte, Julia in absehbarer Zukunft wiederzutreffen.
Es war eine Art von Schmerz, wie er sie bisher nicht gekannt hatte, sehr tief und aufwühlend, verbunden mit einer Sehnsucht, die ihm in dieser Stärke ebenfalls neu war. Das Gefühl trug zu seiner Verwirrung ebenso wie zu seinem Leid bei.
Thomas Volkert fühlte sich ganz hundsmiserabel und hörte der Diskussion des »Kriegsrates«, wie Rheinberg den engeren Kreis von Offizieren nannte, nur mit halbem Ohr zu.
Das eigentliche Thema dieser Sitzung war nicht Volkerts Fehltritt gewesen, sondern ein erster Bericht des Marineoberingenieurs.
»Herr Kapitän, ich habe hier erst mal eine Liste mit allen Besatzungsmitgliedern, die eine solide handwerkliche Ausbildung genossen haben.«
Dahms reichte Rheinberg ein Blatt Papier, das dieser knapp nickend annahm. »Geben Sie uns eine Zusammenfassung«, forderte er den Chef der Maschinen auf.
»Neben drei Marine-Ingenieuren haben wir einen
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