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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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eines Lebensmittelchemikers zu tun hatte als mit einem Ahornbaum in Neu-England. Ich drückte meine Zigarette auf dem blanken Fußboden meiner Wohnung aus und kaute lieber meine Erinnerungen durch als das Essen, das ich zweifellos nötig hatte. Das hatte er tatsächlich zu mir gesagt. All die anderen Dinge waren mehr oder weniger Vermutungen. Ich hätte zum Beispiel nicht beschwören können, dass ihn die Nacht davor seine alte Schuld einholte und ihm den Schlaf raubte. Er sagte mir nicht direkt, dass er deshalb wach in seinem Bett lag und überhaupt merken konnte, dass er beobachtet wurde. Ich weiß nicht mal, ob ich damals einen Gedanken daran verschwendete. Erst jetzt, Jahre später, vermutete ich, dass es eigentlich nur das sein konnte. Es war nur allzu logisch, dass Peter sich im Dornengestrüpp seiner Erinnerungen verfangen hatte. Schon bald sollten alle diese Dinge verschwimmen und verblassen, und so muss ich mir wohl oder übel, um seine Geschichte und Lucys und meine eigene zu erzählen, ein paar Freiheiten nehmen. Die Wahrheit ist eine unsichere Angelegenheit, und ich habe so meine Probleme damit. Wie jeder Verrückte. Deshalb kann es passieren, dass ich sie richtig wiedergebe und sie trotzdem verzerre. Vielleicht ist sie übertrieben. Vielleicht ist es nicht genau so passiert, wie ich es in Erinnerung habe. Vielleicht ist mein Gedächtnis auch von der jahrelangen Einnahme der Medikamente derart strapaziert und in Mitleidenschaft gezogen, dass ich die Wahrheit nie mehr zusammenbekomme.
    Ich glaube, nur Dichter verklären den Wahn als eine Art befreiende Kraft, während das Gegenteil richtig ist. Jede Stimme, die ich hörte, die Angst, die mich quälte, der Zwang, dem ich erlag, die vielen Puzzleteile, die sich zu dem zusammenfügten, was mein trauriges Selbst ausmachte und als solches aus meinem Elternhaus verbannt wurde, um gefesselt ins Western State Hospital geschickt zu werden – nichts von alledem hatte irgendetwas mit Freiheit oder Befreiung oder sonst einer positiven Form von Einmaligkeit zu tun. Das Western State Hospital war einfach nur der Ort, an dem wir weggeschlossen wurden, während wir damit beschäftigt waren, unsere eigene, unsichtbare Isolierzelle um uns zu errichten.
    Das galt weniger für Peter, da er nicht so irre wie wir Übrigen war.
    Und auch nicht für den Engel.
    Und auf eigentümliche Weise bildete Lucy die Brücke zwischen ihnen beiden.
    Wir standen immer noch vor der Kantine und warteten auf Lucy. Peter wirkte geistesabwesend, schien immer wieder in Gedanken durchzuspielen, was er in der vergangenen Nacht gesehen und erlebt hatte. Ich konnte förmlich zusehen, wie er jeden Bruchteil dieser wenigen Momente zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, ans Licht hielt und bedächtig in alle Richtungen drehte wie ein Archäologe, der auf einen Fund gestoßen ist und behutsam den Staub wegpustet. Peter verhielt sich ganz ähnlich, wenn er etwas gesehen hatte; er schien zu hoffen, dass er seinen Gegenstand nur genau in den richtigen Blickwinkel rücken musste, um zu erkennen, was es war.
    Während ich ihn betrachtete, drehte er sich zu mir um und sagte: »So viel zumindest wissen wir jetzt: Der Engel wohnt nicht im gleichen Schlafsaal wie wir. Er könnte oben in dem anderen Schlafsaal zu finden sein. Er könnte auch aus einem anderen Gebäude kommen, auch wenn ich bis jetzt noch nicht weiß, wie. Zumindest aber können wir unsere Zimmernachbarn ausklammern. Und wir wissen noch etwas. Er weiß inzwischen, dass wir beide mit der ganzen Sache zu tun haben, aber er kennt uns nicht, zumindest nicht gut genug, und so beobachtet er uns.«
    Ich fuhr heftig im Flur herum.
    Ein Kato lehnte an der Wand, die Augen an uns vorbei zur Decke gerichtet. Vielleicht hatte er Peter belauscht. Unmöglich zu sagen. Ein seniler alter Mann, dem die Anstaltspyjamahose heruntergerutscht war, wanderte an uns vorbei und sabberte ein wenig übers unrasierte Kinn, brummelte, wankte, als könnte er nicht verstecken, dass der Grund für seine Gehprobleme die Hose war, die ihm um die Knöchel hing. Und der plumpe zurückgebliebene Mann, der uns bedroht hatte, schlurfte im Kielwasser des anderen vorbei, doch als er sich kurz zu uns umsah, waren seine Augen voller Furcht, und all der Ärger und die Aggression waren verflogen. Sie müssen seine Medikation geändert haben, dachte ich.
    »Wie können wir rausbekommen, wer uns beobachtet?«, fragte ich. Ich sah nach rechts und links, und ich fühlte, wie mich ein Kälteschauer

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