Die Anstalt
Wo im großen, weiten Ozean alle möglichen Gefahren zu lauern scheinen, sind wir in Wahrheit sicher, und das, was uns bekannt und vertraut ist, wie unser Zuhause, stellt eine viel größere Bedrohung dar.
Das Licht verblasste um mich her, ich trat von der Wand zurück und ging ans Wohnzimmerfenster. Ich fühlte, wie sich der Raum hinter mir mit Erinnerungen füllte. Es herrschte eine abendliche Brise, nichts weiter als ein Hauch von Wärme. Wir werden alle von der Dunkelheit definiert, dachte ich. Bei Tageslicht kann jeder etwas x-Beliebiges darstellen. Doch bei Nacht, wenn die Welt ausgeschaltet ist, kommt unser wahres Selbst zum Vorschein.
Ich konnte nicht mehr sagen, ob ich erschöpft war oder nicht. Ich hob den Blick und betrachtete den Raum. Es war interessant, zu sehen, dass ich allein war, und zu wissen, dass ich es nicht bleiben würde. Früher oder später würden sie alle über mich hereinbrechen. Und der Engel würde wiederkommen. Ich schüttelte den Kopf.
Lucy, entsann ich mich plötzlich, hatte eine Liste von fast fünfundsiebzig Namen zusammengestellt. Das waren die Männer, die sie zu sehen wünschte.
Lucy stellte eine Liste mit etwa fünfundsiebzig Namen von Insassen aus dem gesamten Western State Hospital zusammen, die das Potenzial zum Töten zu haben schienen. Es handelte sich dabei um Männer, die alle schon einmal offene Feindseligkeit gegenüber Frauen gezeigt hatten, ob sie nun bei einem häuslichen Streit Schläge ausgeteilt oder sich auf verbale Drohungen beschränkt oder obsessive Verhaltensweisen an den Tag gelegt hatten, die sich auf eine Nachbarin oder ein weibliches Familienmitglied richteten und diese für ihre eigene Geisteskrankheit verantwortlich machten. Insgeheim hielt sie an der Überzeugung fest, dass die Morde letztlich auf Sexualverbrechen hinausliefen. Dagegen herrschte unter Juristen derzeit die Auffassung vor, dass alle Sexualdelikte in erster Linie Gewaltverbrechen waren und die sexuelle Befriedigung dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle spielte. Sie sah nicht ein, dass sie alles, was sie von dem Moment an gelernt hatte, als sie selbst zum Opfer wurde, bis zu den Dutzenden von Gerichtsverhandlungen, bei denen sie dem einen oder anderen Angeklagten in die Augen gestarrt und dabei wie in einem Spiegel mehr oder weniger genau den Mann wiedererkannt hatte, der über sie hergefallen war, über den Haufen werfen sollte. Ihre Erfolgsquote an rechtskräftigen Verurteilungen war beispiellos, und sie ging trotz der Schwierigkeiten, die sie in der Nervenheilanstalt hatte, davon aus, dass sie auch dieses Mal Erfolg haben würde. Zuversicht war ihr Markenzeichen.
Auf ihrem Weg über das Klinikgelände Richtung Verwaltungsgebäude fing sie im Geist schon an, ein Porträt des Mannes zu zeichnen, den sie jagte. Er war kräftig genug, um Short Blond zu überwältigen, jung genug, um von einem mörderischen Trieb erfüllt zu sein, alt genug, um Fehler zu vermeiden. Sie neigte zu der Vermutung, dass der Mann sowohl über das praktische Wissen als auch die angeborene Intelligenz verfügte, die es erschwerten, diesen Typ Verbrecher zu stellen. In ihrem Kopf wirbelten all die Einzelheiten herum, und sie war fest davon überzeugt, dass sie in dem Moment, da sie dem richtigen Mann gegenüberstand, ihn augenblicklich erkennen würde.
Der Grund für ihren Optimismus war die Überzeugung, dass der Engel irgendwie erkannt werden wollte. Er war, vermutete sie, arrogant und hegte die Absicht, sie auf dem Gelände der Nervenheilanstalt intellektuell auszustechen.
Sie wusste das viel sicherer als Peter oder Francis oder auch sonst irgendjemand im Western State. Einige Wochen nach dem zweiten Mord hatte ihre Abteilung die beiden abgetrennten Fingerglieder auf die denkbar banalste Art und Weise erhalten – mit der täglichen Postzustellung. Der Täter hatte sie in eine gewöhnliche Plastiktüte und diese wiederum in einen braunen wattierten Umschlag gesteckt, wie man ihn in ganz Neu-England in jedem Bürowarengeschäft kaufen konnte. Die Adresse stand getippt auf einem Etikett und lautete schlicht: LEITERIN ABTEILUNG SEXUALDELIKTE .
Den grausigen menschlichen Überresten war ein einfacher Zettel beigefügt. Darauf stand in Druckbuchstaben die Frage:
Suchen Sie die vielleicht?
Und sonst nichts.
Als die blutigen Andenken an die Gerichtsmedizin weitergegeben wurden, war Lucy zunächst zuversichtlich gewesen. Die Bestätigung, dass sie zum zweiten Opfer gehörten und dass sie nach Todeseintritt
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