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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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meine Gedankenwelt zu finden. Fast sah es so aus, als erwachten sie neben mir, so wie es wohl bei einer Geliebten aus Fleisch und Blut sein musste. In meinem Innern verschafften sie sich Gehör wie eine übermütige Gruppe, die bei einer gut besuchten Auktion einfach drauflos bietet.
    Ich reckte mich nervös und ging ans Fenster. Ich betrachtete die schleichenden Schatten, die sich auf die Stadt herabsenkten, so wie ich es schon Dutzende Male getan hatte, nur dass ich mich diesmal auf eine bestimmte dunkle Stelle hinter dem wuchtigen Ziegelbau mit dem Ersatzteillager ein Stück den Block hinunter konzentrierte. Ich sah zu, wie sich der Schatten an den Rändern ausdehnte, und fand es auf einmal unheimlich, dass jeder Schatten nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Haus oder Baum oder dem zügig ausschreitenden Menschen hat, dem er seine Existenz verdankt. Er nimmt Formen an, die an seinen Schöpfer erinnern, bewahrt aber sein Eigenleben. Gleich, aber auch verschieden. Schatten, dachte ich, können mir eine Menge über meine Welt erzählen. Vielleicht war ich selber mehr Schatten als lebendig. Auf einmal sah ich aus dem Augenwinkel heraus, wie ein Streifenwagen langsam meinen Block entlangfuhr.
    Und mich beflügelte die Vorstellung, dass er kam, um mich zu überwachen. Ich spürte förmlich, wie sich die beiden Augenpaare im dunklen Innenraum des Wagens nach oben richteten und wie Scheinwerfer über die Fassade des Wohnblocks schwenkten, bis sie sich direkt auf mein Fenster richteten. Ich warf mich zur Seite, damit sie mich nicht sahen.
    An die Wand gekauert, machte ich mich ganz klein.
    Sie waren da, um mich zu holen. Ich wusste es so sicher, wie die Nacht dem Tag folgt. Mein Blick tastete sich auf der Suche nach einem Versteck durch die Wohnung. Ich hielt den Atem an und hatte das Gefühl, als hallte jeder Herzschlag in meiner Brust wie ein Nebelhorn nach. Ich versuchte, mich noch fester an die Wand zu schmiegen, als böte sie mir Tarnung. Ich spürte, wie die Beamten draußen die Tür erreichten.
    Doch dann geschah nichts.
    Kein beharrliches Klopfen an der Tür.
    Keine erhobenen Stimmen, die nur ein Wort brüllten: Polizei. Womit alles gesagt war.
    Es herrschte vollkommene Stille, und nach einer Weile beugte ich mich ein Stück weit vor, hob den Kopf und schaute auf die leere Straße vor dem Haus.
    Kein Auto. Keine Polizisten. Nur noch mehr Schatten.
    Ich hielt einen Moment inne. War er überhaupt da gewesen?
    Ich atmete langsam aus. Als ich mich wieder zur Wand umsah, redete ich mir gut zu, dass alles in Ordnung sei, dass es keinen Grund zur Sorge gebe, was mich nur daran erinnerte, dass ich mir genau das all die Jahre in der Anstalt einzureden versucht hatte.
    Die Gesichter waren mir ins Gedächtnis eingebrannt, wenn mir auch manche Namen entfallen waren. Nach und nach hatte Lucy im Verlauf jenes Tages, einen nach dem anderen, die Männer hereingeholt, bei denen sie einige Züge des Profils zu erkennen glaubte, das in ihrem Kopf Gestalt annahm. Zornige Männer. Es war beinahe so etwas wie ein Schnellkurs über einen bestimmten Ausschnitt der Menschheit – jene Klientel, die die Klinik bevölkerte, ein Ausschnitt am Rande der Gesellschaft. Alle möglichen Geisteskrankheiten wurden in diesen Raum getrieben und auf den Stuhl vor ihrem Tisch gesetzt, manchmal mit einem kleinen Schubs vom Big Black, manchmal auch nur mit einer Handbewegung von Lucy oder einem Nicken von Mr. Evans.
    Ich selbst schwieg und hörte zu.
    Es war eine Parade des Unmöglichen. Einige der Männer wirkten verstohlen. Einige schienen verängstigt, machten sich ganz klein, während ihnen der Schweiß auf die Stirn trat und ihre Stimme zitterte, da jede noch so routinemäßig, wohlwollend oder nebensächlich gestellte Frage von Lucy sie fertig machte. Andere waren aggressiv, erhoben sofort die Stimme, brüllten in frisch entfachtem Zorn, schlugen mehr als einmal mit der Faust auf den Tisch und verbaten sich voller Empörung jede Unterstellung. Einigen wenigen hatte es die Sprache verschlagen, und sie starrten ausdruckslos durchs Zimmer, als sei jede Feststellung aus Lucys Mund, jede Frage, die im Raum stand, etwas, das sich auf einer vollkommen anderen Daseinsebene abspielte, etwas, das in keiner Sprache, die sie beherrschten, einen Sinn ergab, so dass eine Antwort unmöglich war. Manche Männer antworteten mit Gestammel, andere phantasierten vor sich hin, wieder andere reagierten verärgert, ein paar verstört. Eine Reihe Männer starrten zur

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