Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
Häuser mit gepflegten grünen Vorgärten und vielleicht ein, zwei Staudenbeeten unter den Fenstern und einem Schwimmbecken hinter dem Haus. Der Schulbus kam zweimal zu unserem Block, um alle Kinder aufzunehmen. Am Nachmittag herrschte auf der Straße ein ständiges Kommen und Gehen, unablässiges Kindergeschrei. Unter der Woche kamen Jungen und Mädchen mit Jeans, die an den Knien ausgefranst waren, während dieselben Kinder sonntags wie aus dem Ei gepellt erschienen – die Jungen im blauen Blazer und in steif gestärkten weißen Hemd mit Polyesterkrawatte und die Mädchen in rüschenbesetzten Kleidern. Dann verteilten wir uns alle mit unseren Eltern auf den Bänken der einen oder anderen benachbarten Kirche. Es war die für das westliche Massachusetts typische, mehrheitlich katholische Mischung, die sich die Zeit nahm, darüber zu diskutieren, ob es Sünde war, am Freitag Fleisch zu essen. Dazu eine Hand voll Episkopale und Baptisten und sogar ein paar jüdische Familien, die jedoch zur Synagoge ans andere Ende der Stadt fahren mussten.
    Es war alles so erstaunlich, überwältigend, unendlich typisch. Typischer Block in einer typischen Straße, bewohnt von typischen Familien, die die Demokraten wählten und ein bisschen für die Kennedys schwärmten und an warmen Frühlingsabenden zu Kinderligaspielen gingen, weniger, um zuzusehen, als um zu plaudern. Typische Träume. Typische Ambitionen. In jeder Hinsicht typisch, von den ersten Morgenstunden bis in den späten Abend hinein. Typische Ängste, typische Interessen. Gespräche, die sich an die Normalität wie an einen roten Faden hielten. Selbst typische Geheimnisse hinter den typischen Fassaden. Ein Alkoholiker. Ein Mann, der seine Frau verprügelte. Ein heimlicher Homosexueller.
    Alles typisch, die ganze Zeit.
    Außer mir natürlich.
    Über mich wurde hinter vorgehaltener Hand diskutiert, im selben Flüsterton, der gewöhnlich einer wirklich schockierenden Nachricht vorbehalten war, etwa, dass zwei Straßen weiter eine schwarze Familie eingezogen war oder dass der Bürgermeister mit einer Frau, die ganz gewiss nicht seine Ehefrau war, beim Verlassen eines Motels gesehen worden war.
    In all den Jahren wurde ich nicht mal zu einer einzigen Geburtstagsfeier eingeladen. Niemals zu einem Übernachtungsbesuch. Nicht ein einziges Mal zu einer spontanen Fahrt zu einem Eisbecher bei Friendly’s auf den Rücksitz eines Kombis geschoben. Ich habe keinen einzigen spätabendlichen Anruf bekommen, um über die Schule oder Sport oder darüber zu klatschen, wer nach dem Tanzabend der siebten Klasse wen geküsst hatte. Ich habe nie in einem Team gespielt oder in einem Chor gesungen und bin nie in einer Kapelle mitmarschiert. Nie habe ich an einem Freitagabend im Herbst eine Fußballmannschaft angefeuert, und ich habe niemals schüchtern und verlegen einen schlecht sitzenden Smoking angezogen, um zum Jahresabschlussball zu gehen. Mein Leben war einmalig, weil all die kleinen Dinge fehlten, die jedermanns Normalität ausmachen.
    Ich konnte nie sagen, was ich mehr hasste – die Welt, der ich entstammte, die mir aber verschlossen blieb, oder die einsame Welt, in der ich notgedrungen leben musste – Einwohnerzahl: eins, abgesehen von meinen Stimmen.
    So viele Jahre lang konnte ich hören, wie sie mich beim Namen riefen: Francis! Francis! Francis! Komm raus! Es war ein bisschen so wie das, was an einem milden Juniabend von den Kindern in meinem Block zu erwarten gewesen wäre, wenn langsam das Licht verblasste und die Hitze des Tages noch bis weit in den Abend anhielt, doch dazu kam es nie. Vermutlich war es ihnen nicht einmal übel zu nehmen. Ich weiß nicht, ob ich gewollt hätte, dass jemand wie ich zum Spielen rauskommt. Und mit mir wurden auch die Stimmen älter, so dass ihr Ton sich änderte, als hielten sie mit jedem Jahr, das verging, Schritt.
    Alle diese Gedanken mussten irgendwo aus der trüben Welt zwischen Schlafen und Wachen aufgestiegen sein, da ich plötzlich in meiner Wohnung die Augen aufschlug. Ich musste eine Weile, mit dem Rücken an das leere Stück Wand gelehnt, weggedöst sein. Es waren die Art von Gedanken, die meine Medikamente gewöhnlich unterdrückten. Ich hatte einen steifen Hals und erhob mich unsicher. Wieder war der Tag um mich her verblasst, und wieder war ich allein, wenn auch mit meinen Erinnerungen, meinen Geistern und dem vertrauten Gemurmel jener jahrelang unterdrückten Stimmen. Sie schienen alle ziemlich erfreut zu sein, wieder Einlass in

Weitere Kostenlose Bücher