Die Anstalt
hervorlugte, und die dunklen Stoppeln eines Zweitagebarts. Doch was Francis vor allen Dingen gefangen nahm, waren die Augen des Mannes, denn sie blitzten weit schneller und wacher und aufmerksamer hin und her, als seine lockere Pose vermuten ließ, und nahmen viele Dinge in Bruchteilen von Sekunden wahr. Es lag eine Tiefe in den Augen, die Francis trotz seiner eigenen Qual sofort bemerkte. Er konnte es nicht gleich in Worte fassen, doch es war, als hätte der Mann etwas unsäglich Trauriges gesehen, das direkt hinter seinem Blickfeld lauerte, so dass alles, was er sah oder miterlebte, von diesem Schmerz beeinflusst war. Der Blick ruhte auf Francis, und der Mann brachte ein zartes, mitfühlendes Lächeln zustande, das auch ohne Worte Bände sprach.
»Geht’s, Kumpel?«, fragte er. Bei jedem Wort klang der Akzent eines irischstämmigen Bostoners durch. »Ist es so schlimm?«
Francis schüttelte den Kopf. »Ich will nach Hause, aber sie sagen, ich muss hier bleiben«, antwortete er. Und dann die mitleiderregende, spontane Frage: »Könnten Sie mir wohl helfen?«
Der Mann beugte sich leicht zu Francis vor. »Ich fürchte, hier gibt’s ’ne ganze Reihe Leute, die gerne nach Hause wollen und es nicht können. Inklusive meiner Wenigkeit, im Moment.«
Francis sah zu dem Mann auf. Er wusste nicht genau, wieso, aber sein ruhiger Ton half ihm, sich zu fassen. »Können Sie mir helfen?«, platzte Francis noch einmal heraus.
Der Mann lächelte, eine Mischung aus Nonchalance und Traurigkeit. »Ich weiß nicht, was ich tun kann«, sagte er, »aber ich will tun, was ich kann.«
»Versprochen?«, fragte Francis hastig.
»In Ordnung«, erwiderte der Mann. »Versprochen.«
Francis lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schloss einen Moment die Augen. »Danke«, flüsterte er.
Die Sekretärin unterbrach die Unterhaltung mit einer überdeutlichen Anweisung an den Kleineren der beiden schwarzen Pfleger. »Mr. Moses, dieser Herr« – sie wies auf den Mann im Overall – »ist Mr. …« Hier zögerte sie einen Moment und fuhr dann fort, indem sie offenbar absichtlich vermied, den Namen auszusprechen: »der Herr, über den wir vorhin sprachen. Die Polizisten werden ihn zum Doktor begleiten, aber bitte kommen Sie umgehend zurück, um ihn zu seiner neuen
Unterkunft
mitzunehmen« – Letzteres mit einem Anflug von Sarkasmus –, »sobald Sie Mr. Petrel drüben im Amherst abgeliefert haben. Er wird dort schon erwartet.«
»Ja, Ma’am«, sagte der Größere der Brüder, als sei er jetzt an der Reihe, obwohl die Bemerkungen der Frau an den Kleineren gerichtet waren. »Wird erledigt.«
Der Mann im Overall sah wieder zu Francis herunter. »Wie heißen Sie?«, fragte er.
»Francis Petrel«, antwortete er.
Der Mann im Overall lächelte. »Petrel ist ein hübscher Name. Es ist ein kleiner Seevogel, wissen Sie, gibt eine Menge davon auf Cape Cod. Das sind die Vögel, die man im Sommer nachmittags direkt über die Wellen fliegen sieht, wo sie immer in die Gischt tauchen und wieder hochkommen. Schöne Tiere. Weiße Flügel, einen Moment flattern sie ganz schnell, im Nächsten steigen sie mühelos in die Höhe. Die müssen scharfe Augen haben, um einen Sandaal oder einen Menhaden in der Brandung zu entdecken. Ganz bestimmt der Vogel der Dichter. Können Sie so fliegen, Mr. Petrel?«
Francis schüttelte den Kopf.
»Na ja«, sagte der Mann im Overall. »Dann sollten Sie es vielleicht lernen. Besonders für den Fall, dass Sie allzu lange in diesem netten Etablissement hier eingesperrt werden.«
»Halten Sie den Mund!«, warf einer der Polizisten in einem derart ruppigen Ton ein, dass der Mann grinsen musste. Er drehte sich zu dem Ordnungshüter um und sagte: »Oder Sie tun was?«
Darauf wusste der Mann nichts zu erwidern, auch wenn er leicht rot anlief, während sein Schutzbefohlener den Befehl ignorierte und sich wieder an Francis wandte. »Francis Petrel. Francis C-Bird, Seevogel. Das gefällt mir besser. Nimm’s nicht so schwer, Francis C-Bird, und wir sehen uns bald wieder. Versprochen.«
Francis brachte zwar kein Wort heraus, fühlte sich von den Worten des Mannes jedoch ermutigt. Zum ersten Mal, seit dieser Tag schon morgens mit all den lauten Stimmen, Schreien und Vorwürfen begonnen hatte, fühlte er sich nicht mehr allein. Ihm war, als ob das schrille, unablässige Getöse, das ihm schon den ganzen Tag in den Ohren dröhnte, wie ein plärrendes Radio ein wenig leiser gestellt worden wäre. Er hörte, wie ein paar von seinen
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