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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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anormal ist, die Normalität und das Bizarre tägliche Routine. Sie haben Ihre Ermittlungen hier drinnen durchgeführt, als herrschten hier dieselben Gesetze wie außerhalb dieser Mauern. Sie haben nach dokumentarischem Beweismaterial gesucht, nach Indizien, die den Täter überführen. Sie haben unsere Akten durchgeforstet und sind durch unsere Flure gegangen, so wie Sie es an einem beliebigen anderen Ort hätten tun können. Natürlich hat sich das, wie ich Ihnen vorausgesagt hatte, als nutzlos erwiesen. Und so fürchte ich, Miss Jones, sind Ihre Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Wie ich von Anfang an vermutet hatte.«
    »Mir bleibt noch etwas Zeit.«
    »Ja. Und Sie haben dieses mysteriöse und möglicherweise nicht existente Zielobjekt ihrer Jagd zu einer Reaktion herausgefordert. Das mag in der Ihnen vertrauten Welt eine angemessene Vorgehensweise sein, Miss Jones. Aber hier?«
    Lucy fuhr sich mit den Fingern durch ihre kurzen Haare. »Meinen Sie nicht, dass das unerwartet für ihn kommt und vielleicht funktioniert?«
    »Ja«, erwiderte der Arzt. »Aber bei wem wird es funktionieren? Und wie?«
    Erneut wusste sie keine Antwort. Der Arzt betrachtete Cleos Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ach ja, die arme Cleo. Ich habe ihre Kapriolen meistens ausgesprochen genossen, denn sie besaß eine manische Energie, die, solange wir sie einigermaßen unter Kontrolle hatten, überaus unterhaltsam war. Wussten Sie, dass sie Shakespeares großes Drama auswendig konnte, Zeile für Zeile, Wort für Wort? Leider führt sie heute Nachmittag ihr Schicksal auf unseren eigenen Armenfriedhof. Der Bestattungsunternehmer müsste jeden Moment hier sein, um ihre Leiche vorzubereiten. Ein Leben voller Aufruhr, Schmerz und in weitgehender Anonymität, Miss Jones. Wer immer sie einmal gemocht oder auch geliebt haben mag, ist in unseren Unterlagen und unserem institutionellen Gedächtnis sozusagen nicht mehr auffindbar. Und so hinterlassen ihre Jahre auf diesem Planeten kaum Spuren. Eine äußerst bescheidene Lebensbilanz. Das scheint nicht ganz fair, nicht wahr? Cleo besaß viel Persönlichkeit, sie hatte ein resolutes Wesen und vertrat feste Überzeugungen. Dass sie alle verrückt waren, tut der Leidenschaft, mit der sie sie vertreten hat, keinen Abbruch. Ich hätte ihr gewünscht, dass sie dieser Welt einen kleinen Stempel hätte aufdrücken können, denn sie hätte ein anderes Epitaph verdient als nur eine Fußnote in den Klinikakten. Kein Grabstein. Keine Blumen. Nur ein anderes Bett in dieser Anstalt, das diesmal zwei Meter unter der Erde ist. Sie hätte eine Beerdigung mit Fanfaren und Feuerwerk verdient, mit Elefanten und Löwen, einen Leichenzug mit Pferdegespann, etwas, das ihrem königlichen Wesen gerecht geworden wäre.«
    Lucy hörte, wie der Doktor seufzte.
    Er riss sich vom Anblick der Toten los und sah zu Lucy auf.
    »Und, Miss Jones, was ist nun mit Ihnen?«
    »Ich bin immer noch auf der Suche, Doktor. Bis zur letzten Minute, die mir hier bleibt.«
    Er sah sie verstohlen an. »Aha, eine Obsession. Unverdrossene Zielstrebigkeit, die vor keinem Hindernis Halt macht. Etwas, das, wie Sie zugeben werden, eher in mein Ressort fällt.«
    »Vielleicht wäre
Beharrlichkeit
ein besseres Wort.«
    Er zuckte die Schultern. »Wie Sie wollen. Aber beantworten Sie mir eine Frage, Miss Jones: Sind Sie auf der Suche nach einem Geistesgestörten hergekommen oder auf der Suche nach einem geistig Zurechnungsfähigen?«
    Er gab ihr Zeit für ihre Antwort, die ohnehin auf sich warten ließ. Der Arzt schob Cleos Leiche mit einem Quietschen der Laufschienen, die unter ihrem Gewicht ächzten, in die Kühlanlage und sagte: »Ich muss los und den Mann vom Bestattungsunternehmen erwischen, der bald kommt und eine anstrengende Arbeit vor sich hat. Einen schönen Tag noch, Miss Jones.«
    Lucy sah dem Arzt nach, dessen plumpe Gestalt sich ein wenig unter den gleißenden Deckenleuchten wiegte, und sie gestand sich ein, dass sie dem Täter einigen Respekt dafür zollen musste, sich so lange in der Klinik vor ihr versteckt zu halten. Er hatte allen ihren Anstrengungen getrotzt und verbarg sich immer noch irgendwo in diesen Mauern und war nach allem, was sie bisher wusste, gegen ihre Ermittlungstaktik immun.
    Das hast du doch gedacht, oder?
    Ich schloss die Augen und wusste, dass der Engel unweigerlich jeden Moment an meiner Seite sein würde. Ich versuchte, meinen Atem, meinen jagenden Herzschlag zu verlangsamen, denn ich war mit bewusst, dass von hier ab

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