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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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bleiben muss. Aber nach Mitternacht kann es schon ein bisschen gruselig werden.«
    Sie sah den Mann eindringlich an und versuchte, sich jede Einzelheit seiner Züge, jede Veränderung in seinem Tonfall einzuprägen und mit dem Bild zu vergleichen, das sie sich vom Engel gemacht hatte. Hatte er die richtige Größe und Statur, das richtige Alter? Wie sieht ein Killer aus? Sie fühlte, wie sich ihr der Magen zusammenzog und die Muskeln in ihren Armen und Beinen vor Anspannung zitterten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ein Mörder lächelnd den Flur entlanggeschlendert kommt.
Wer bist du?,
dachte sie.
    »Wieso ist Mr. Moses nicht selber runtergekommen?«, fragte sie laut.
    Der Pfleger zuckte die Schultern. »Im Schlafsaal einen Stock höher haben sich ein paar Kerle in die Wolle gekriegt, und er musste einen von ihnen in den vierten Stock bringen und zusehen, dass er ihn in die Zwangsjacke kriegt und unter Beobachtung stellt und ihm ’ne Ladung Haldol verpasst. Deshalb hat er seinen großen Bruder in der Pflegestation gelassen und mich gebeten, hier runterzukommen. Aber wie’s aussieht, haben Sie ja alles bestens unter Kontrolle. Kann ich mich noch irgendwie nützlich machen, bevor ich wieder raufgehe?«
    Lucy hatte immer noch die Hand an der Waffe und durchbohrte den Pfleger mit ihren Blicken. Als er näher kam, versuchte sie, jeden Zentimeter an ihm zu ergründen. Sein dunkles Haar war ein wenig lang, doch gepflegt. Seine Pflegertracht war tadellos, und mit den Tennisschuhen waren seine Schritte kaum zu hören. Sie sah ihm lange in die Augen und suchte darin entweder nach dem Lichtblitz des Wahns oder nach dem Dunkel des Todes. Sie suchte die ganze Erscheinung des Mannes nach irgendeinem Zeichen ab, das ihr verriet, wer er war, und hoffte auf irgendeine Besonderheit, die ihr Klarheit verschaffte. Sie packte die Pistole noch fester und zog sie halb aus der Tasche, um sich zu wappnen. Sie tat das alles so unauffällig wie möglich. Zugleich blickte sie auf die Hände des Mannes. Die Finger wirkten lang, fast zu lang, wie Klauen.
    Er trat näher, so dass er nur noch ein, zwei Meter entfernt war, nahe genug, dass sie eine Art Hitze zwischen ihnen fühlen konnte, die sie auf ihre Nervosität zurückführte.
    »Na, jedenfalls, tut mir leid, falls ich Sie erschreckt habe. Ich hätte Sie vorher anrufen sollen, damit Sie Bescheid wissen, dass ich runterkomme. Oder Mr. Moses hätte anrufen sollen, aber er und sein Bruder waren wie gesagt ein bisschen beschäftigt.«
    »Schon in Ordnung«, sagte sie.
    Der Pfleger wies auf das Telefon neben ihrer Hand. »Ich sollte Mr. Moses anrufen und ihm sagen, dass ich gleich wieder oben im Isolationstrakt bin. Darf ich mal?«
    Sie wies mit dem Kopf auf das Telefon. »Bedienen Sie sich«, sagte sie. »Wissen Sie, ich hab Ihren Namen nicht verstanden …«
    Jetzt war er nahe genug, um sie zu berühren, aber dennoch durch den schützenden Maschendraht der Pflegestation von ihr getrennt. Der Pistolenkolben schien in ihrer Hand zu brennen, als schreie er danach, aus seinem Versteck gezogen zu werden.
    »Mein Name?«, fragte er. »Tut mir leid. Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt …«
    Der Mann griff durch die Öffnung im Maschendraht, durch die gewöhnlich die Medikamente an die Patienten ausgegeben wurden, und nahm den Hörer von der Gabel, um ihn sich ans Ohr zu halten. Sie sah zu, wie er drei Nummern wählte und dann eine Sekunde wartete.
    Eiskalt fuhr ihr ein verwirrender Gedanke durch den Kopf. Der Pfleger hatte nicht zwei null zwei gewählt.
    »Hey«, sagte sie, »das ist nicht …«
    Und dann schien ihre Welt zu explodieren.
    Ein rot glühender Schmerz prasselte hinter ihren Augen auf sie nieder, und mit jedem Herzschlag fühlte sie Stiche der Angst. In ihrem Kopf drehte sich alles, und dann fühlte sie, wie sie nach vorn stürzte, als hätte sie die Balance verloren. In dem Moment traf sie eine zweite Salve im Gesicht, der dicht hintereinander eine dritte und vierte folgten. Ihr Kinn, ihr Mund, ihre Nase und die Wangen schienen alle zugleich in Flammen zu stehen, und in ihrem ganzen Gesicht pochten entsetzliche Schmerzen. Sie merkte, wie sie kurz davor war, ohnmächtig zu werden, wie es schwarz um sie wurde. Sie nahm den letzten Rest an Geistesgegenwart und Selbstkontrolle zusammen und versuchte, ihre Pistole herauszuziehen. Sie fühlte sich wie in einem Kokon aus schierer Qual und schwindelerregender Desorientierung; ihr entschlossener, fester Griff, mit dem sie noch vor

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