Die Anstalt
Schritte hinter sich stehen. Der Jüngere hatte vor Angst und Anspannung geweitete Augen, und in dem einsamen Lichtstrahl aus einem entfernten Gitterfenster wirkte sein Gesicht noch jünger, als er war.
»Ich weiß nicht«, sagte Peter. »Ich kann’s nicht sagen.«
»Die Tür …«
»Ist abgeschlossen«, antwortete er. »Dürfte sie eigentlich nicht sein, ist sie aber.«
Francis holte tief Luft. Einer Sache war er sich absolut sicher.
»Das ist er«, sagte er mit einer Bestimmtheit, die ihn selbst überraschte.
Jeder Gedanke und jede Bewegung wurden von dem Schmerz überlagert, der jede Faser ihres Gesichts erfasste. Sie setzte alles daran, wach zu bleiben, denn sie begriff, dass ihr Leben davon abhing, auch wenn sie noch nicht wusste, wie. Eines ihrer Augen war bereits zugeschwollen, und sie glaubte, dass ihr Kiefer gebrochen war. Sie versuchte, vom Klang der Stimme in ihrem Ohr wegzukriechen, doch er versetzte ihr noch einen Fußtritt und ließ sich plötzlich rittlings auf sie fallen, so dass er sie auf den Boden presste. Sie stöhnte erneut auf, und in dem Moment merkte sie, dass er etwas in der Hand hielt. Als er es ihr an die Wange drückte, wusste sie, was es war. Ein Messer, nicht viel anders als dasjenige, mit dem er vor Jahren ihr Gesicht zerschnitten hatte.
Er flüsterte, allerdings mit dem Machtanspruch eines Ausbilders beim Militär. »Nicht bewegen. Nicht zu schnell sterben, Lucy Jones. Nicht nach so langer Zeit.«
Vor Angst rührte sie sich nicht.
Er erhob sich, trat lässig wieder an den Tisch und hatte mit zwei schnellen Bewegungen die Telefonleitung und die Gegensprechanlage gekappt.
»Und jetzt«, sagte er und drehte sich wieder zu ihr um, »eine kleine Unterhaltung, bevor das Unvermeidliche geschieht.«
Sie schob sich ein Stück zurück und antwortete nicht.
Er ließ sich wieder auf sie fallen und presste sie erneut mit den Knien zu Boden. »Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie nahe ich dir schon bei so vielen Gelegenheiten gewesen bin, dass ich sie gar nicht mehr zählen kann? Weißt du, dass ich dir all die Zeit auf Schritt und Tritt gefolgt bin, Tag für Tag, Woche für Woche an deiner Seite gewesen bin, so dass aus Sekunden Minuten wurden und ich Jahre verstreichen ließ und immer an Ort und Stelle war – so nah, das ich jederzeit nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um dich zu holen, so nah, dass ich deinen Duft riechen, deinen Atem hören konnte? Ich bin dir nie von der Seite gewichen, Lucy Jones, seit der Nacht, als wir uns das erste Mal begegnet sind.«
Er schob sein Gesicht dicht neben ihres.
»Du hast dich gut geschlagen«, sagte der Engel. »Hast beim Jurastudium jede Lektion gelernt. Einschließlich derjenigen, die ich dir beigebracht habe.«
Der Engel sah mit wutverzerrtem Gesicht auf sie hinab.
»Deine Ausbildung ist fast abgeschlossen, fehlt nur noch der letzte Schliff«, sagte er und setzte ihr die Messerklinge an die Kehle.
Francis trat vor und starrte Peter durchdringend an. »Das ist er«, wiederholte er. »Er ist jetzt da.«
Peter sah wieder zu dem kleinen Türfenster hinüber. »Wir haben kein Zeichen gehört. Die Moses-Brüder müssten da sein …«
Doch ein weiterer Blick auf die Angst und die unerschütterliche Gewissheit in Francis’ Gesicht genügte. Er drehte sich um und warf sich gegen die verschlossene Tür, so dass er vor Anstrengung schwer ächzte. Dann trat er zurück und stürmte erneut gegen das unnachgiebige Metall, nur um mit einem dumpfen Aufschlag abzuprallen. Peter merkte, wie sich in ihm die Panik breit zu machen begann, nachdem er plötzlich begriffen hatte, dass an einem Ort, wo die Zeit fast nichts bedeutete, nunmehr Sekunden entscheidend sein konnten.
Er nahm Abstand und trat dann heftig gegen die Tür. »Francis«, sagte er laut, »wir müssen hier raus.«
Doch Francis zerrte bereits fest am Metallrahmen seines Bettes, um einen der Pfosten herauszuziehen. Peter brauchte nicht lang, um zu begreifen, was sein Freund versuchte, und er sprang hinüber, um Francis dabei zu helfen, ein Eisenstück herauszubrechen, das ihnen als provisorisches Stemmeisen dienen könnte, um damit die Tür zu bearbeiten. Mitten in dem Tumult aus Ängsten und Zweifeln, der quälenden Frage, was sich in seiner unmittelbaren Nähe, aber außerhalb seiner Reichweite abspielte, kam Peter der seltsame Gedanke, dass dieses Gefühl der Ohnmacht vermutlich so ähnlich war wie bei einem Mann, der in einem brennenden Gebäude eingeschlossen ist und
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