Die Anstalt
Evans«, sagte Dr. Gulptilil hastig. »Tut mir unendlich leid, Ihre Sitzung zu unterbrechen …«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Mr. Evil. »Wir wollten sowieso gerade zum Ende kommen.«
Francis drängte sich der radikale Gedanke auf, dass sie eher gerade richtig anfangen, statt zum Ende kommen wollten. Doch er hörte dem Wortwechsel der Therapeuten gar nicht richtig zu, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt der Frau, die genau zwischen den Moses-Brüdern stand.
Francis sah, so kam es ihm vor, viele Dinge auf einmal: Sie war schlank und außergewöhnlich groß, vielleicht an die eins neunzig, und er schätzte ihr Alter auf plus minus dreißig. Ihre Haut war von einem hellen Kakaobraun, ein bisschen so wie die Eichenblätter, die sich im Herbst zuerst verfärbten, und die Form ihrer Augen hatte etwas Orientalisches. Ihr Haar fiel ihr mit seidig schwarzem Glanz bis über die Schultern. Unter ihrem offenen hellbraunen Trenchcoat trug sie ein blaues Kostüm. Um den Griff einer ledernen Aktentasche lagen lange, zarte Finger, und sie schaute mit einer Entschlossenheit durch den Raum, die den erregtesten Patienten augenblicklich zur Ruhe gebracht hätte. Beinahe kam es ihm so vor, als brächte ihre bloße Gegenwart die Wahnvorstellungen zum Schweigen, die jeden Stuhl in der Runde belagerten.
Zuerst fand Francis, dass sie die schönste Frau war, die er je gesehen hatte, doch dann wandte sie ein wenig den Kopf, und er sah, dass die linke Hälfte ihres Gesichts von einer langen, weißen Narbe entstellt war, die ihre Augenbraue spaltete, über ihr Auge sprang, dann in einer gezackten Linie die Wange herunter verlief und in der Kinnpartie endete. Die Narbe hatte dieselbe Wirkung wie ein Hypnotiseur; er konnte den Blick nicht von dieser Zickzacklinie wenden, die ihr Gesicht in zwei Teile spaltete. Einen Moment lang schien es ihm fast, als betrachtete er das Werk eines geistesgestörten Künstlers, der sich – von der Vollendung dessen, was er geschaffen hatte, schier überwältigt – in einem Anfall von Wahnsinn ein Palettenmesser geschnappt und sein Bildnis brutal wieder zerstört hatte.
Die Frau trat vor. »Wer sind die beiden Männer, die die Leiche der Schwester gefunden haben?«, fragte sie. Ihre Stimme war von einer Heiserkeit, die Francis durch und durch ging.
»Peter, Francis«, sagte Dr. Gulptilil kurz angebunden. »Diese junge Frau hier ist den ganzen Weg von Boston hierher gefahren, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Würden Sie uns bitte ins Büro begleiten, damit sie sich ausführlich mit Ihnen unterhalten kann?«
Francis stand auf und wurde sich erst in diesem Moment bewusst, dass Peter the Fireman die Frau ebenso unverwandt anstarrte wie er selbst. »Ich kenne Sie«, sagte er leise. Noch während er die Worte hörte, sah Francis, wie die Frau sich Peter the Fireman zuwandte und in einem Moment des Wiedererkennens die Stirn runzelte. Doch fast genauso schnell zeigte die vernarbte Schönheit wieder ihren undurchdringlichen Gesichtsausdruck.
Die beiden Männer verließen die Runde.
»Passt auf«, sagte Cleo unvermittelt. Und dann zitierte sie wieder aus ihrem Lieblingsstück: »Der klare Tag ist hin, im Dunkel bleiben wir …« Es herrschte kurze Stille im Raum, dann fügte sie mit ihrer rauen, rauchigen Stimme hinzu: »Nehmt euch vor den Arschlöchern in Acht. Die meinen’s nie gut mit euch.«
Ich trat von der Wohnzimmerwand und den dort versammelten Wörtern zurück und dachte: Da. Das ist es. Wir waren alle da, wo wir hingehörten. Der Tod ist, glaube ich, zuweilen wie eine algebraische Gleichung, eine endlose Reihe von X-Faktoren und Y-Werten, die so lange multipliziert und dividiert und addiert und subtrahiert werden, bis man zu einer einfachen, wenn auch schrecklichen Lösung kommt. Null. Und sobald man dieses Ergebnis hatte, stimmte die Formel.
Als ich in die Anstalt eingewiesen wurde, war ich einundzwanzig und noch nie verliebt gewesen. Ich hatte noch nie ein Mädchen geküsst oder ihre weiche Haut unter meinen Fingerspitzen gespürt. Sie waren mir ein Buch mit sieben Siegeln, Bergspitzen, so unerreichbar wie Zurechnungsfähigkeit. Nichtsdestotrotz beflügelten sie meine Phantasie: Es gab so viele Geheimnisse: die Rundung einer Brust, das Lächeln um die Mundwinkel, das Rückgrat, wenn es sich in sinnlicher Leidenschaft krümmt. Ich wusste nichts und stellte mir alles vor.
So vieles ist in meinem verrückten Leben außerhalb meiner Reichweite geblieben. Vermutlich hätte ich eigentlich damit
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