Die Anstalt
volle Befriedigung und hören dann plötzlich damit auf?«
»Ich bin kein forensischer Psychiater, Miss Jones«, sagte er nachdrücklich.
»Doktor, Ihrer Erfahrung nach …«
Gulptilil schüttelte den Kopf. »Ich denke, Miss Jones«, sagte er mit einem schlauen Unterton, »wir beide wissen nur zu gut, dass die Antwort auf Ihre Frage nein lautet. Das sind Verbrechen, die kein Ende finden. Ein psychopathischer Mörder kommt nicht irgendwann zu einem Abschluss seiner Taten. Zumindest nicht innerlich, auch wenn in der Literatur Fälle verzeichnet sind, wo sich der eine oder andere von ihnen aufgrund extremer Schuldgefühle das Leben genommen hat. Doch das scheint leider eine Minderheit zu sein. Nein, ganz allgemein gesprochen werden Wiederholungstäter durch äußere Umstände daran gehindert, weiter zu morden.«
»Ja, wie wahr. Anderson und, wie wir vermuten, auch Abberline, verfolgten privat die Theorie, dass es nur dreierlei Gründe dafür geben konnte, wieso Jack the Ripper in London zu morden aufhörte. Vielleicht war der Killer nach Amerika ausgewandert – unwahrscheinlich, aber immerhin möglich –, auch wenn keine vergleichbaren Morde in den Staaten belegt sind. Die zweite These: Er war gestorben, entweder von eigener Hand oder von der eines anderen – was auch nicht allzu wahrscheinlich war. Selbst in Viktorianischer Zeit war Selbstmord nicht besonders häufig, und wir müssten darauf spekulieren, dass den Ripper seine eigene teuflische Bosheit quälte, und darauf deutet nichts hin. Bleibt eine dritte und weitaus realistischere Erklärung.«
»Die wäre?«
»Dass der Mann, der als Jack the Ripper bekannt war, in Wahrheit in eine Nervenheilanstalt eingesperrt wurde. Und da er nicht in der Lage war, sich aus dem Tollhaus wieder rauszureden, wurde er für immer von den dicken Mauern verschlungen.«
Lucy hielt inne, bevor sie fragte: »Wie dick sind die Mauern hier, Doktor?«
Gulp-a-pill reagierte schnell und sprang auf. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Was Sie da andeuten, Miss Jones, ist ungeheuerlich! Unmöglich! Dass irgendein Jack the Ripper von heute jetzt hier in dieser Anstalt sitzt!«
»Wo könnte er sich besser verstecken?«, fragte sie ruhig.
Gulp-a-pill rang um Haltung. »Die Vorstellung, dass ein Mörder, selbst ein schlauer, in der Lage sein sollte, seine wahren Gefühle vor dem gesamten geschulten Personal zu verbergen, ist einfach absurd! Vielleicht war das im neunzehnten Jahrhundert möglich, als die Psychologie noch in den Kinderschuhen steckte. Aber doch nicht heute! Das würde eine beinahe ständige Willensanstrengung bedeuten, eine Raffinesse und Menschenkenntnis, die die Fähigkeiten irgendeines der Patienten hier bei weitem übersteigt. Was Sie da andeuten, ist schlichtweg unmöglich.« Letzteres sagte er mit großem Nachdruck, der seine eigenen Ängste überspielen sollte.
Lucy wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Stattdessen griff sie nach unten und holte ihre Aktentasche hervor. Sie stöberte einen Moment darin und wandte sich dann zu Francis um. »Wie hatten Sie die ermordete Lernschwester genannt?«, fragte sie ruhig.
»Short Blond«, sagte Francis. Lucy Jones nickte.
»Ja, das erscheint mir treffend. Ihr Haar war kurz geschnitten …«
Während sie sprach, zog sie, wie tief in Gedanken versunken, einen braunen Briefumschlag aus der Tasche. Sie machte ihn auf und holte eine Reihe großer Farbfotos im Format zwanzig mal fünfundzwanzig hervor. Sie warf einen Blick darauf, blätterte sie auf dem Schoß durch, griff dann eines heraus und warf es vor Gulp-a-pill auf den Tisch.
»Vor achtzehn Monaten«, sagte sie, während die Aufnahme über die Platte rutschte.
Sie zog eine zweite aus dem Stapel. »Vor vierzehn Monaten.«
Dann flatterte ihm die dritte entgegen. »Vor zehn Monaten.«
Francis reckte sich vor und sah, dass es sich ausnahmslos um junge Frauen handelte. Er sah auch glänzend rote Blutbahnen, die sich bei jeder um die Kehle bildeten. Er sah die heruntergerissenen und neu geordneten Kleider. Er sah Augen, die nichts als blankes Entsetzen zeigten. Sie waren alle Short Blond, und Short Blond war jede von ihnen. Sie waren verschieden und doch gleich. Francis sah genauer hin, als drei weitere Fotos über die Tischplatte rutschten. Das waren Großaufnahmen jeweils von der rechten Hand der Opfer. Und dann sah er es: Bei der ersten fehlte ein Fingerglied; bei der zweiten waren es zwei; bei der dritten drei.
Er riss sich von dem Anblick los und schaute zu
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