Die Anstalt
richtig«, sagte Lucy Jones ruhig.
Diese Worte schienen die zufällige Stille aufzuladen.
Als ausgebildeter Psychiater wusste Dr. Gulptilil eine gewisse taktische Raffinesse durchaus zu schätzen, vielleicht sogar über medizinische Erwägungen hinaus.
Wie so viele für die Psyche zuständigen Ärzte besaß er die unheimliche Fähigkeit, zurückzutreten und den Moment von einer emotional unbeteiligten Warte aus zu betrachten, so als stünde er auf einem Wachtturm und starrte von dort oben auf einen Gefängnishof hinunter. Seitlich von ihm sah er eine junge Frau, die energisch eine Auffassung und eine Vorgehensweise vertrat, die mit seiner eigenen unvereinbar war. Sie hatte Narben im Gesicht, die vor Hitze zu glühen schienen. Ihm gegenüber beäugte er denjenigen seiner Patienten, der viel weniger gestört war als sämtliche anderen Patienten in der Klinik und zugleich weitaus hoffnungsloser, möglicherweise mit der Ausnahme des Mannes, den die junge Frau so eifrig jagte – falls er denn wirklich existierte, woran Dr. Gulptilil ernste Zweifel hegte. Ihm kam der Gedanke, dass sich diese beiden leicht entflammbaren Charaktere noch als Problem erweisen könnten. Er betrachtete auch Francis und kam zu dem Schluss, dass er leicht von der Energie der anderen beiden mitgerissen werden könnte, eine nicht eben wünschenswerte Aussicht.
Dr. Gulptilil räusperte sich mehrmals hintereinander und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er sah an praktisch allen Ecken und Enden Ärger voraus. Ärger besaß eine explosive Kraft, deren Bekämpfung er einen großen Teil seiner Zeit und Mühe widmete. Er hätte nicht sagen können, dass er seine Tätigkeit als Chefarzt einer Nervenheilanstalt sonderlich genoss, doch ihm war Pflichtgefühl in die Wiege gelegt, und stetige, zuverlässige Arbeit hatte für ihn einen quasi religiösen Stellenwert; schließlich flossen im Staatsdienst viele Vorzüge zusammen, die für ihn Vorrang besaßen, nicht zuletzt ein wöchentlicher Gehaltsscheck und die entsprechenden Beihilfen, dazu keines der beträchtlichen Risiken, die eine eigene Niederlassung und Praxiseröffnung mit sich gebracht hätten, bei der er auf einen ausreichenden Zustrom von Neurotikern in seinem Umkreis hätte hoffen müssen, um die ersten Termine zu machen.
Er wollte sich gerade einschalten, als sein Blick auf ein Bild in der Ecke seines Schreibtischs fiel. Es war ein Atelierfoto von seiner Frau und ihrer beider Kinder, einem Sohn in der Grundschule und einer Tochter, die eben vierzehn geworden war. Auf dem Bild, das vor weniger als einem Jahr aufgenommen war, hatte seine Tochter Haare, die ihr in einer großen, schwarzen Welle über die Schulter bis halb zur Taille fielen. In ihrer heimischen Tradition war dies ein Zeichen der Schönheit, egal, wie fern der Heimat sie auch leben mochten. Als sie klein war, saß er oft einfach nur da und sah dabei zu, wie ihre Mutter den Kamm durch die schimmernde Kaskade zog. Das war vorbei. In einem Anflug von Rebellion hatte sich die Tochter vor einer Woche zu einem Friseur um die Ecke geschlichen und ihre Haare auf Pagenkopf-Länge schneiden lassen, womit sie sich neben der Familientradition auch über die gerade herrschende Mode hinwegsetzte. Seine Frau hatte zwei Tage lang nur geweint, und er war gezwungen gewesen, eine strenge Predigt zu halten, die größtenteils auf taube Ohren stieß, sowie eine nachhaltige Strafe zu verhängen, die sie zwei Monate lang von allen außerschulischen Aktivitäten ausschloss und ihre Telefonate auf Hausaufgaben beschränkte, was einen Wutausbruch nach sich zog und ein, zwei Kraftausdrücke, die er nie und nimmer in ihrem Wortschatz vermutet hätte. Er zuckte zusammen, als ihm bewusst wurde, dass alle Opfer die Haare kurz trugen. Jungenhaft kurz. Und sie waren alle auffällig schlank, so als gäben sie ihre Weiblichkeit nur widerstrebend zu. Ihre Tochter war nicht viel anders, immer noch ziemlich kantig und knochig, mit nur einer leisen Andeutung von Kurven. Seine Hand zitterte ein wenig, als er an dieses Detail denken musste. Auch ging ihr, wie er sehr wohl wusste, jeder Versuch von ihm, ihren Bewegungsspielraum auf dem Klinikgelände einzuschränken, gegen den Strich. Bei dieser Vorstellung biss er sich einen Moment auf die Unterlippe. Angst, drängte sich ihm der Gedanke auf, hat bei einem Psychiater nichts zu suchen; sie gehört zu den Patienten. Angst ist irrational, und sie besetzt parasitenhaft das Ungewisse. In seinem Beruf ging es um gesicherte
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