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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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immer schwerer, das eine vom anderen zu unterscheiden. Die Worte, die ich an die Wände ringsum geschrieben hatte, flimmerten mir vor den Augen wie die Hitzeschwaden an einem heißen Sommertag über einer geteerten Straße. Manchmal dachte ich an die Anstalt als eine Art Parallel-Universum, vollkommen für sich; wir alle kreisten darin in dem Sog von unsichtbaren und doch geballten Kräften der Gravitation als kleine Planeten durchs All – jeder auf seiner Bahn und dennoch in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden, doch jeder für sich. Mir kam der Gedanke, dass überall dort, wo man Menschen aus egal welchem Grund zusammenbringt – in einem Gefängnis, in einer Armee oder bei einem Profi-Basketballspiel, in einer Versammlung des Lion’s Club, einer Hollywood-Filmpremiere, einer Gewerkschaftsveranstaltung oder einer Sitzung der Schulbehörde –, ein gemeinsamer Zweck dahintersteckt, ein Bindeglied. Doch das galt weit weniger für uns, denn das Einzige, was uns wirklich verband, war der merkwürdige Wunsch, anders zu sein, als wir waren, und für viele von uns war das ein unerreichbarer Traum. Für diejenigen, die schon seit Jahren im Klinikgemäuer ihr Dasein fristeten, hatte diese Alternative vermutlich sogar bereits ihren Reiz verloren. Viele von uns hatten Angst vor der Welt da draußen und ihren Rätseln, und dies so sehr, dass wir uns lieber den Gefahren stellten, die im Innern der Anstaltsmauern lauerten. Wir waren allesamt Inseln mit unseren eigenen Geschichten, an einem zunehmend unsicheren Ort zusammengewürfelt.
    Bei einer von vielen Gelegenheiten, wenn es schlichtweg nichts zu tun gab, außer darauf zu warten, dass etwas geschieht, was selten war, stand ich mit Big Black einfach so im Flur herum, und er erzählte mir, dass die heranwachsenden Kinder des Klinikpersonals, das auf dem Gelände wohnte, bei ihren Wochenend-Rendezvous ein Ritual entwickelt hatten; sie gingen zu Fuß zum Campus des nahe gelegenen College hinunter, um von dort aus mitgenommen oder auch zurückgebracht zu werden. Und wenn sie danach gefragt wurden, sagten sie, ihre Eltern gehörten zum Personal – wobei sie aber Richtung College deuteten und nicht den Berg hinauf, wo wir alle unsere Tage und Nächte fristeten. Es war, als fürchteten sie, sich unsere Krankheiten einzufangen. Wer wollte schon so sein wie wir? Wer wollte schon mit unserer Welt in Verbindung gebracht werden?
    Bei der Antwort darauf bekam ich eine Gänsehaut: Nur einer.
    Der Engel.
    Ich schnappte nach Luft, atmete tief ein, dann aus und stieß die heiße Luft durch die Zähne aus. Seit vielen Jahren ließ ich zum ersten Mal wieder den Gedanken an ihn zu. Ich sah mir an, was ich bis dahin geschrieben hatte, und begriff, dass ich nicht all diese Geschichten schreiben konnte, ohne auch seine zu erzählen, und das machte mir schwer zu schaffen. Eine alte Nervosität und eine uralte Angst beschlich meine Gedanken.
    Und damit betrat er den Raum.
    Nicht so wie ein Nachbar oder Freund oder auch nur ein ungebetener Gast, vielleicht mit einem Klopfen an der Tür und einer bemüht freundlichen Begrüßung, sondern wie ein Gespenst. Es ging nicht die Tür mit einem Knarren auf, es wurde auch kein Stuhl herangezogen, und wir stellten uns einander nicht vor. Und dennoch war er da. Ich fuhr herum, erst in die eine, dann in die andere Richtung und versuchte, ihn irgendwo in der reglosen Luft zu entdecken, doch ich konnte es nicht. Er besaß die Farbe des Windes. Plötzlich erhoben sich Stimmen in mir, Stimmen, die ich seit Monaten nicht gehört hatte, die verstummt zu sein schienen, fingen plötzlich an, mir Warnungen zuzurufen, die mir in den Ohren und im Kopf widerhallten. Doch es schien mir fast, als riefen sie mir ihre Botschaft in einer Fremdsprache zu; ich verstand mich nicht mehr darauf, ihnen zuzuhören. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass etwas schwer Fassbares, doch ungeheuer Wichtiges auf einmal aus den Fugen geriet und die Gefahr greifbar nahe war. So nahe, das ich ihren Atem im Nacken spürte.
    Im Büro herrschte einen Moment lang Schweigen. Durch die geschlossene Tür drang plötzlich das Rattern der Schreibmaschine. Irgendwo in der Tiefe des Verwaltungsgebäudes stieß ein verstörter Patient ein langes, klagendes Geheul aus, unversöhnlich in seiner Intensität, das jedoch verhallte wie das ferne Jaulen eines Hundes. Peter the Fireman rutschte auf die vordere Stuhlkante wie ein eifriges Kind, das die Frage des Lehrers beantworten kann.
    »Das ist

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