Die Anstalt
überlegte: Da spricht die Staatsanwältin aus ihr. Statt zu leugnen oder zu protestieren oder sich sonst irgendwie herauszulavieren, drehte sie den Spieß einfach um. Und Gulp-a-pill, der kein Dummkopf war, auch wenn er oft so wirkte, musste das ebenfalls begriffen haben, da diese Gesprächstechnik seinem Berufszweig auch nicht ganz unbekannt war. Er wand sich unbehaglich, bevor er antwortete. Er war auf der Hut, ein Gutteil der Gereiztheit war aus seiner Stimme verschwunden, so dass der salbungsvolle, leicht anglisierte Ton des psychiatrischen Anstaltsdirektors sich wieder volle Geltung verschaffte. »Ich glaube, Miss Jones, dass Sie gewisse Umstände bei diesem Fall, die Ihren Wünschen zuwiderlaufen, einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Es hat einen tragischen Todesfall gegeben. Die zuständigen Behörden wurden unverzüglich eingeschaltet. Der Tatort wurde professionell untersucht, Zeugen eingehend befragt, Beweismittel sichergestellt, eine Verhaftung vorgenommen. Das alles geschah in der üblichen Vorgehensweise und nach den geltenden Regeln. Mir scheint, dass es an der Zeit wäre, die Wahrheitsfindung nunmehr dem gerichtlichen Verfahren anheimzustellen.«
Lucy nickte und wägte ihre Antwort ab.
»Doktor, sagen Ihnen die Namen Frederick Abberline und Sir Robert Anderson etwas?«
Gulp-a-pill zögerte, während er überlegte. Francis sah förmlich, wie er in seinem Gedächtnis wühlte, doch zu keinem Ergebnis kam. Diese Art Niederlage war Dr. Gulptilil offenbar zuwider. Er war ein Mann, der sich entschieden keine Blößen gab, wie geringfügig auch immer. Er blickte finster drein, schürzte dann die Lippen, rutschte auf seinem Sitz hin und her, räusperte sich ein-oder zweimal und gab sich schließlich mit einem Kopfschütteln geschlagen. »Nein, tut mir leid. Diese beiden Namen sagen mir nichts. Und was, bitte schön, könnten sie zu unserer Diskussion beitragen?«
Lucy antwortete nicht direkt auf diese Frage, sondern sagte stattdessen: »Vielleicht sind Sie mit ihrem Zeitgenossen vertrauter. Einem Herrn namens Jack the Ripper?«
Gulptilil kniff die Augen zu. »Selbstverständlich. Er spielt in den Fußnoten zu einer Reihe medizinischer und psychiatrischer Texte eine gewisse Rolle, in erster Linie wegen der unleugbaren Brutalität und Verruchtheit seiner Verbrechen. Die anderen beiden Namen …«
»Abberline war der Ermittler, der mit den Whitechapel-Morden 1888 betraut war. Anderson war sein Vorgesetzter. Sind Sie mit dem damaligen Geschehen überhaupt vertraut?«
Der Arzt zuckte die Schultern. »Jedes Kind weiß mehr oder weniger, wer Jack the Ripper ist. Es gibt Reime und Lieder, die, glaube ich, wieder zu Romanen und Verfilmungen geführt haben.«
Lucy nahm ihre Ausführungen wieder auf. »Die Verbrechen beherrschten die Schlagzeilen. Verbreiteten Angst und Schrecken unter der Bevölkerung. Wurden zu so etwas wie dem Prototyp, an dem bis heute viele ähnliche Verbrechen gemessen werden, obwohl sie sich auf ein klar begrenztes Umfeld und eine spezifische Gruppe seitens der Opfer beschränkten. Die Angst, die sie auslösten, stand tatsächlich in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Auswirkung, und dasselbe lässt sich zu ihrer Nachwirkung in der Geschichte sagen. Wie Sie wohl wissen, kann man heute in London eine Bustour zu sämtlichen Tatorten machen. Und es gibt nach wie vor Diskussionsrunden, in denen die Verbrechen weiter untersucht werden. Man nennt diese Leute Ripperologen. Fast hundert Jahre danach verfallen die Menschen immer noch dieser morbiden Faszination, wollen sie immer noch wissen, wer der Mann in Wahrheit war …«
»Und dieser kleine Nachhilfeunterricht in Geschichte soll was genau bezwecken, Miss Jones? Sie bringen ein Argument vor, aber ich glaube, Sie wissen selbst nicht so recht, welches.«
Lucy ließ sich von dieser negativen Reaktion nicht aus der Fassung bringen.
»Wissen Sie, was Kriminologen an Jack the Ripper schon immer fasziniert hat, Doktor?«
»Nein.«
»So plötzlich, wie die Verbrechen anfingen, hörten sie auch wieder auf.«
»Ach ja?«
»Als hätte man eine Schleuse der Gewalt geöffnet und dann wieder geschlossen. Zack! Einfach so.«
»Interessant, aber …«
»Sagen Sie, Doktor, finden Menschen, die von ihrer sexuellen Triebhaftigkeit beherrscht werden – vor allem, wenn sie diese Triebhaftigkeit in Verbrechen, in scheußlichen, immer brutaleren Verbrechen kolossalen Ausmaßes ausleben –, finden diese Menschen in ihren Taten
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