Die Apothekerin
auf. So bald würden sie nicht wieder von mir hören, jedenfalls wollte ich den üblichen Weihnachts- und Neujahrsanruf vergessen.
Zwei Stunden später meldete sich mein Bruder Bob. Die Alten hatten ihn bereits benachrichtigt. »Gratuliere«, sagte er, »was hältst du davon, wenn wir euch zu Silvester besuchen? Ich bringe dir dann Großvaters Uhr mit.« An und für sich hätte ich mich über Bobs Besuch sehr gefreut - vor allem, wenn seine Frau nicht dabeigewesen wäre -, aber im Augenblick wollte ich mit meinen Männern und meinem Zustand allein sein. Mein Bruder hätte Verwicklungen geahnt, die noch nicht zu überblicken waren.
»Ach, Bob«, sagte ich, »das ist wirklich lieb, aber mir ist ständig schlecht. Ich will die Feiertage dafür nutzen, lange im Bett zu liegen und möglichst wenig Küchenarbeit zu machen - bereits der Geruch einer gebratenen Zwiebel verursacht mir Übelkeit. Ich wäre eine schlechte Gastgeberin.«
Auf diese Weise vertat ich die Chance, meinen Bruder im Hause zu haben, als ich ihn wirklich gebraucht hätte. Die Silvesterfeier wird mir mein Lebtag in unguter Erinnerung bleiben.
Als ich am 24. Dezember von einer anstrengenden Einkaufstour heimkam, lag ein Zettel auf dem Tisch. Levin wolle am Frankfurter Flughafen abgeholt werden, seine Mutter sei in der Nacht gestorben. Dieter war sofort losgefahren. Ich hatte mir den Knöchel an einem Einkaufswagen angestoßen, den Finger an der Heckklappe geklemmt und stand nun mit meinen schweren Tüten vor dem Kühlschrank. Die beiden Herren erwarteten wahrscheinlich ein fertiges Essen.
Ein abgemagerter, niedergeschlagener Levin kam nach Hause, wollte wie ein Kind in die Arme genommen und gewiegt werden. Er trank ein bißchen Tee und lag dann sich schneuzend in der Hängematte, während Dieter das Bäumchen im Ständer befestigte und ich die Tannennadeln aufsaugte. Schließlich begann ich damit, den Schmuck meiner Großeltern anzubringen. Es roch nach Wald. Levin holte sich den Plattenspieler und eine Lieblingsplatte in den Wintergarten: Orpheus und Euridice.
Ach, ich habe sie verloren, all mein Glück ist nun dahin! vernahmen wir in voller Lautstärke. Bisher hatte ich bei diesen Klängen immer phantasiert, die Verlorene sei ich, und die herzzerreißende Klage gelte mir. Nun galt sie seiner Mutter, war das nicht inzestuös?
Dieter schien meinen Gedankengängen nicht zu folgen, geistesabwesend befestigte er einen Stern an der Tannenspitze.
Ich hätte lieber das Radio angestellt und amerikanische Weihnachtsschnulzen gehört, statt dessen erklang: Ach, vergebens! Ruh und Hoffnung, Trost des Lebens ist nun nirgends mehr für mich.
Levin wimmerte in diese Worte hinein, daß ich den Text kaum mehr verstand. Wie hätte ich ihn gerade jetzt mit Trennungsplänen quälen können.
Ein melodramatisches Kaffeestündchen folgte.
»Falls es überhaupt einen Trost gibt«, sagte Levin, »dann ist
es das Kind. Ein geliebter Mensch stirbt, aber ein neuer wird
geboren. Wenn es ein Mädchen wird, soll es den Namen
meiner Mutter bekommen.«
Ich wußte, daß sie Auguste hieß. »Hatte sie noch einen
zweiten Namen?«, fragte ich vorsichtig und hoffte zum ersten
Mal auf einen Sohn.
»Sicher«, sagte Levin, »Auguste Friederike. Man nannte sie
übrigens Gustel, das ist doch ganz hübsch.« »Mit Friederike bin ich einverstanden«, sagte ich und sah,
wie nun Dieter zusammenzuckte.
Nach dem Essen zündeten wir die Kerzen an und saßen ein
wenig verlegen um unseren Baum herum. Dieter holte Wein,
und Levin wurde nach fünf Gläsern euphorisch. »Im nächsten
Jahr sind wir nicht mehr zu zweit«, sagte er und übersah Dieter
an meiner Seite, »unser Kind wird jubeln, wenn es die
brennenden Kerzen und die bunten Kugeln sieht.«
Dieter schluckte und sagte dann: »Und in zwei Jahren kann
unser Kind schon laufen.«
Levin achtete nicht auf das Possessivpronomen. Er trank
weiter, umarmte mich, behauptete, daß dieses Weihnachtsfest
das schönste in seinem Leben sei, aber fünf Minuten später
hielt er es schon wieder für das traurigste.
Dieter sagte nichts mehr und trank nur noch. Ich war in
ängstlicher Stimmung, alle beide gefielen mir nicht. Draußen
hatte es angefangen zu regnen, nicht etwa zu schneien, wie
man es Jahr für Jahr erwartete. Im Radio hörte man Glocken
und Kinderchöre.
»Unser Kind soll Klavier spielen lernen«, sagte Levin,
»Hella, meinst du, daß es musikalisch wird? Schließlich war
mein Vater Organist.«
Ich schielte nach Dieter, der plötzlich nach der
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