Die Apothekerin
Vorschlaghammer aus dem Keller geholt haben, und das ließ sich nicht mehr als eine Handlung im Affekt entschuldigen.
Trotz des ungemütlichen Wetters verzog ich mich warm verpackt nach draußen, aber zum nochmaligen Wandern konnte ich mich doch nicht entschließen. Im Garten legte ich eine Plastiktüte auf die nasse Bank und setzte mich hin. Ein zutrauliches Rotkehlchen ließ sich direkt neben mir nieder. Ich blieb regungslos. Es sah mich mit seinen schwarzen Augen aufmerksam an.
Als Kind hatte mich das Märchen von »Jorinde und Joringel« tief beeindruckt - Hunderte von eingesperrten Nachtigallen sind in Wahrheit verzauberte Mädchen. Seither weiß ich, daß Vögel Tiere wie andere auch sind, aber ebenso Boten unserer Seele. In unendlich vielen Liedern, Gedichten und Märchen kommt ein Vogel als Symbol dunkler oder guter Mächte vor, als Überbringer von Nachrichten, als Vorzeichen für Tod und Unheil oder Hoffnung und neue Liebe. Angesichts der Poesie dieser Lieder ahnte ich, daß es noch eine andere Liebe gab, die mir bisher versagt war.
Schon manchmal hatte ich überlegt, ob ich nicht lieber ein Tier wäre, und wenn - welches. Wenn ich die Wahl hätte, dann wollte ich fliegen. Anfangs dachte ich an eine Fledermaus; es gibt ganz unterschiedliche Sorten, die aber alle etwas Teuflisches, Dämonisches an sich haben. Mit ihren großen aufgestellten Ohren, ihren leicht hervortretenden Augen und ihren spitzen Zähnen sind sie Boten der Finsternis, Blutsauger. Doch wenn man sie an einem warmen Sommerabend in südlichen Ländern unendlich leicht und behende schwirren sieht, dann möchte man sich anschließen. Ähnlich geht es mir mit meinen Lieblingsvögeln, den Schwalben. Mit den Fledermäusen haben sie gemeinsam, daß sie Schwerarbeit leisten, um sich und ihre Brut zu ernähren. Wollte ich mein Leben lang schuften, nur um satt zu werden?
Lieber entschied ich mich für einen Raubvogel. Keinen Adler, eher einen Bussard, der nicht gar so monumental daherfliegt. Wer hat nicht schon an einem Urlaubstag im Gras gelegen und einen kreisenden Raubvogel beobachtet. Weit über uns und unseren Problemen zieht er in blauer Luft, abgehoben, entrückt. Nur gelegentlich stürzt er sich auf eine Maus, denn von irgend etwas muß auch seine Majestät satt werden.
Vielleicht würde ich es einmal schaffen, das Leben eines Raubvogels zu führen, allein damit beschäftigt, die erbeutete Maus ins Nest zu meinen Jungen zu tragen. Ein zweiter Bussard kreiste mit mir, weitere Vögel halten es so hoch dort oben gar nicht aus. Ich stände unter Naturschutz, die Mäuse ließe man mir gern, an Lämmern vergriffe ich mich nie.
15
Endlich habe er einen jungen Mann für die Gartenarbeit gefunden, sagte Pawel bei einem abendlichen Besuch. Seine Deutschkenntnisse seien zwar schwach, dafür sei er intelligent und arbeitswillig. »Er kann nichts dafür, daß er Analphabet ist; wenn man etwas mehr Zeit hätte…«
Wie er aussehe, wollte ich wissen. »Ein hübscher Junge«, sagte Pawel.
Voller Entzücken überlegte ich, ob man sich in der Volkshochschule nach geeignetem Lehrmaterial erkundigen konnte.
»Vorsicht«, sagte Rosemarie, als wir allein waren, »nicht schon wieder!«
Ich ärgerte mich. Meine Gespräche mit Pawel gingen sie nichts an, früher hatte sie wenigstens anstandshalber weggehört oder war auf den Flur gegangen.
Sie war aber nicht mehr zu bremsen und hielt mir eine regelrechte Moralpredigt. Ich machte mir von den meisten Menschen ein falsches Bild, das könne ja nicht gutgehen…
›Na, über dich mache ich mir keine Illusionen, dachte ich, ›du bist eine verschrumpelte alte Jungfer ohne Vergangenheit und ohne Zukunft‹, und fuhr doch mit meinen Räubermärchen fort.
In weihnachtlicher Stimmung riefen meine Eltern an. »Wir haben lange nichts von dir gehört«, behaupteten sie.
Kurz angebunden wünschte ich ihnen ein frohes Fest. ›Wenn ihr wüßtet‹, dachte ich.
Auch meine Chefin meldete sich und druckste herum. Ob ich nicht ein paar Tage eine erkrankte Kollegin vertreten könne. »Ich bin sonst ganz allein im Laden, Hella. Sie wissen ja, was nach den Feiertagen auf uns zukommt.«
Natürlich hatte sie recht. Unzählige Menschen haben zu viel gegessen, getrunken und geraucht und werden krank. Andere können die gesteigerten emotionalen Erwartungen ihrer Familie zum Fest der Liebe nicht aushallen und fordern Valium wie Dorit. Zur Überraschung meiner Chefin sagte ich klaglos zu. In der sicheren Welt der Apotheke fühlte ich
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