Die Arena
Kälte gezittert. Ich hatte eine Gänsehaut an den Beinen. Corrie hat gesagt: >Los, wir ziehen ihr auch die Unterhose aus!<, aber so weit wollten sie dann doch nicht gehen. Gewissermaßen als Ersatz dafür hat Lila meine hübschen Slacks aufs Dach des Musikpavillons geworfen. Danach sind sie gegangen, Lila als Letzte. Sie hat mir noch gedroht: >Petzt du diesmal wieder, komme ich mit dem Messer meines Bruders und schneid dir deine Schlampennase ab.<«
»Wie ging's danach weiter?«, fragte Barbie. Und ja, seine Hand lag eindeutig an ihrer Brust.
»Es ging damit weiter, dass ein verängstigtes kleines Mädchen auf dem Musikpavillon kauerte und sich fragte, wie sie nach Hause kommen soll, ohne dass die halbe Stadt sie in ihrer albernen Babyunterhose sieht. Ich kam mir vor wie das kleinste, dümmste Küken, das je gelebt hat. Zuletzt beschloss ich, bis abends zu warten. Meine Eltern würden sich Sorgen machen, würden vielleicht sogar die Polizei alarmieren, aber das war mir egal. Ich würde bis zum Einbruch der Dunkelheit warten und dann durch Seitenstraßen nach Hause schleichen. Mich hinter Bäumen verstecken, wenn mir jemand entgegenkam.
Ich muss etwas gedöst haben, denn plötzlich stand Kayla Bevins über mir. Sie hatte zu dem Sextett gehört, mich wie die anderen geschlagen und an den Haaren gezogen und angespuckt. Sie hatte weniger gesagt als die anderen, aber sie hatte mitgemacht. Sie hatte mitgeholfen, mich festzuhalten, während Lila und Corrie mir die Hose auszogen, und als noch ein Bein meiner Slacks vom Dach gehangen hatte, war Kayla aufs Geländer gestiegen und hatte es vollends hoch geschleudert, damit ich die Hose nicht mehr erreichen konnte.
Ich habe sie angefleht, mir nichts mehr zu tun. Über Dinge wie Stolz und Würde war ich längst hinaus. Ich habe sie angefleht, mir nicht die Unterhose runterzuziehen. Dann habe ich sie angefleht, mir zu helfen. Sie hat einfach dagestanden und zugehört, als wäre ich ihr vollkommen egal. Ich war ihr auch vollkommen egal. Das wusste ich damals. Im Lauf der Jahre habe ich es wohl vergessen, aber das Leben unter der Kuppel hat mir diese grundlegende Erkenntnis wieder ins Gedächtnis gerufen.
Irgendwann wusste ich nicht mehr weiter und lag nur noch schniefend da. Sie hat mich noch eine Weile betrachtet und dann ihren Pullover ausgezogen - ein altes braunes Ding, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Kayla war ein großes Mädchen, entsprechend riesig war der Pullover. Sie hat ihn auf mich geworfen und dabei gesagt: >Trag das auf dem Heimweg, dann sieht es aus wie ein Kleid.<
Das war alles, was sie gesagt hat. Und obwohl ich noch weitere acht Jahre mit ihr zur Schule gegangen bin - bis zum Abschluss der Mills High -, haben wir nie mehr miteinander gesprochen. Aber im Traum höre ich sie noch manchmal diesen einen Satz sprechen: Trag das auf dem Heimweg, dann sieht es aus wie ein Kleid. Und ich sehe dabei ihr Gesicht. Ohne Hass oder Zorn, aber auch ohne Mitleid. Sie hat es nicht aus Mitleid getan, sie wollte mich auch nicht beschwichtigen. Ich weiß nicht, warum sie es getan hat. Ich weiß nicht mal, warum sie zurückgekommen ist. Weißt du es?«
»Nein«, sagte er und küsste sie. Sein Kuss war kurz, aber warm und feucht und ziemlich wundervoll.
»Wieso hast du das eben getan?«
»Weil du ausgesehen hast, als brauchtest du einen - und ich weiß, dass ich einen nötig hatte. Wie ging's weiter, Julia?«
»Ich zog den Pullover an und ging heim - was sonst? Und meine Eltern haben auf mich gewartet.«
Sie reckte stolz das Kinn hoch.
»Ich habe ihnen nie erzählt, was passiert war, und sie haben es nie rausgekriegt. Ungefähr eine Woche lang habe ich jeden Morgen auf dem Schulweg meine Slacks auf dem kegelförmigen kleinen Dach über dem Musikpavillon liegen sehen. Und jedes Mal habe ich die Scham und den Schmerz gespürt - wie ein Messer in meinem Herzen. Eines Tages waren sie dann weg. Das hat die Schmerzen nicht verschwinden lassen, aber danach waren sie etwas leichter zu ertragen. Stumpf statt schneidend.
Ich habe die Mädchen nie verraten, obwohl mein Vater schrecklich wütend war und mich zu Hausarrest bis Juni verdonnert hat. Ich durfte nur noch in die Schule gehen und nicht mal den Klassenausflug ins Portland Museum of Art mitmachen, auf den ich mich schon seit Monaten gefreut hatte. Er hat mir erklärt, ich dürfe mitfahren und bekäme alles wieder erlaubt, sobald ich die Namen der Kinder preisgebe, die mich >missbraucht< hätten. So hat er es genannt.
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