Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
geöffneten Schnabel etwas zu und machte sich dann wieder daran, vorsichtig an Aurians Haar zu knabbern. Einen Augenblick lang blieb das Kind reglos stehen, Auge in Auge und in lautloser Zwiesprache mit dem wilden Räuber; dann katapultierte sie ihn mit einer schnellen Aufwärtsbewegung ihres Armes gen Himmel. Er stieg in Spiralen immer höher, um dann schwebend und rüttelnd über ihnen zu verharren. Aurian zog den verwunderten Schwertkämpfer unter das schützende Laubdach der Bäume. »Jetzt heißt es abwarten«, murmelte sie.
Nach einer Weile kamen die Kaninchen langsam unter den Büschen hervor, um zu fressen, und hoppelten zaghaft aus ihrer Deckung heraus. Forral spürte, wie Aurians Hand seinen Arm umklammerte. »Jetzt«, stieß sie atemlos hervor. Über ihnen legte der Falke seine Flügel zusammen und stürzte wie ein Stein zu Boden. Forral stöhnte. Er würde auf der Erde zerschellen …
In der letzten Sekunde riß der Raubvogel seine Flügel wieder auseinander. Nur einen Zoll über dem Boden fing er seinen Sturzflug ab, schlug die Klauen in das Kaninchen, das er sich als Opfer ausgewählt hatte, und verschwand kurz in einer Wolke fliegender Pelzfetzen und kleiner Federchen. Dann strich er in niedrigem Flug über das grasbewachsene Gelände ab und kehrte in einem weiten Kreis wieder zu dem wie leblos daliegenden, braunen Pelzklumpen zurück. Mit ausgestreckten Flügeln ließ er sich auf dem betäubten Tier nieder und besiegelte mit einem einzigen schnellen Schnabelhieb dessen Schicksal.
Forral blinzelte erstaunt und konnte nun auch wieder daran denken, weiterzuatmen. Es war alles so schnell gegangen, daß er gar nicht jede Einzelheit hatte erfassen können. Schließlich folgte er Aurian, die zu dem Falken hinüberlief. »Gut gemacht«, sagte sie zu dem Vogel. »Oh, sehr gut gemacht!« Windschwinge hüpfte von dem Kaninchen herunter und ließ sich im Gras nieder, um zu warten. Aurian seufzte, als sie die tote Kreatur aufhob. »Armes, kleines Ding«, murmelte sie und strich ihm kurz über den Pelz, bevor sie es in ihrer Tasche verstaute.
»Macht es dich nicht traurig, dieses Töten?« fragte der Schwertkämpfer sie neugierig.
»Natürlich tut es das.« Sie drehte sich zu ihm um mit einem Gesicht, das ernst war und irgendwie erwachsener, als er es je zuvor gesehen hatte. »Es ist sehr traurig, Forral, aber es geschieht nun einmal. Windschwinge muß fressen, ebenso wie sein Weibchen und seine Jungen. Kaninchen sind ziemlich groß für ihn – das ist der Grund, warum er sie oft zuerst betäubt – aber er braucht sie als Nahrung genauso wie wir. Wir nehmen nur, was wir brauchen, und er tötet schnell und sauber, nicht wie eine Fußangel.« Sie schenkte dem Falken ein verträumtes Lächeln. »Und er ist so wunderschön …« Einen Augenblick lang fehlten ihr die Worte, aber Forral verstand, denn der reißende, furchtlose Flug des Falken hatte auch sein Herz berührt. »Er gibt mir das Gefühl, als wäre ich mit ihm dort oben, als flögen wir zusammen«, sprach Aurian leise weiter. Dann schüttelte sie sich und rief – plötzlich wieder ganz bei der Sache – Windschwinge mit einem Pfiff zurück auf ihr Handgelenk. »Wir müssen uns Stöcke nehmen und auf die Büsche schlagen, um die Kaninchen wieder herauszutreiben – sie haben jetzt Angst«, sagte sie. »Wenn du denkst, er hat seine Sache gut gemacht, dann warte erst einmal ab, bis du siehst, wie er ein schnelleres Tier auf der Flucht schlägt. Was meinst du, wie viele Kaninchen brauchen wir?«
Forral schüttelte verblüfft den Kopf. Aurian schaffte es doch immer wieder, ihn in Erstaunen zu setzen – und diesmal hatte er etwas von ihr gelernt.
Die warmen Tage verstrichen, und schon bald war es für die Magusch an der Zeit, die Dörfer und Farmen zu besuchen, die in der Nähe des Tales lagen. Jedes Jahr im Frühling hießen die Sterblichen in der näheren Umgebung ihre Hilfe willkommen, wenn sie ihre Erdmagie benutzte, um ihre Felder zu ›segnen‹, um ihnen eine gute Ernte zu versichern. Als Gegenleistung versorgten sie sie mit Korn, Werkzeug, Leinen und anderen Dingen, die sie nicht selbst anbauen oder herstellen konnte. Diesmal benötigte sie vor allem eine neue Scheibe für Aurians Fenster und etwas Federvieh, da ihre eigenen Hühner in den wilden Winterstürmen restlos zugrunde gegangen waren. Der Schwertkämpfer war entsetzt zu erfahren, daß Aurian früher für die Dauer von Eilins Abwesenheit allein im Tal zurückgeblieben war. Dieser
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