Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
versteckten Bodenfalten hineinzufallen. Es bestand auch keine Gefahr, daß sie sich verlaufen würde. Sie mußte lediglich auf das flackernde Licht zugehen, das wie ein Signalfeuer oben auf dem Turm brannte. Aber außer dem einen Mal, als sie sich im Schnee verirrt hatte, war Aurian noch nie bei Nacht draußen in der unendlichen, leeren Dunkelheit des Ödlands gewesen. Sie fühlte sich plötzlich furchtbar niedergeschlagen und einsam, und Forral liebte sie überhaupt nicht mehr. Sie schluckte, um ein Schluchzen zu unterdrücken, und tat sich selbst schrecklich leid. Ihre Füße begannen zu schmerzen, und ihr Hinterteil brannte noch immer. Es war ein trauriges kleines Mädchen, das schließlich über die Brücke schlich, die zum Turm führte.
Erst viele Jahre später erzählte Forral ihr, daß er sich nie weit von ihr entfernt hatte; wie ein Schatten war er ihr gefolgt, bis sie in sicherer Entfernung ihres Zuhauses war, und da er nicht ihre Nachtsicht hatte, war der Weg für ihn viel beschwerlicher gewesen als für sie.
Zu Aurians Erleichterung glühte ein sanftes Licht im Küchenfenster. Forral war also nicht gegangen. Trotzdem dauerte es lange, bis das Kind den Mut aufbrachte, die Tür zu öffnen. Forral saß am Tisch. Er hatte den Kopf auf seine Hände gestützt und sah genauso aufgelöst aus, wie sie sich fühlte. Sie bemerkte, daß seine Kleider an manchen Stellen abgestoßen und schmutzig waren, als sei er irgendwo gestürzt. Er hatte sie nicht eintreten hören – oder vielleicht ignorierte er sie auch. Aurian schlich sich näher an ihn heran. »Forral, es tut mir leid«, sagte sie mit leiser Stimme. Der Schwertkämpfer hob langsam den Kopf und streckte ihr seine Arme entgegen. Aurian, zu erleichtert, um zu sprechen, stürzte auf ihn zu und kletterte auf seinen Schoß. Als er sie fest an sich drückte, begann sie zu weinen – und zu ihrer Überraschung weinte er auch. »Bitte weine nicht«, flehte sie ihn verwirrt an. »Dich hat doch niemand verhauen«, fügte sie mit einem Anflug von Entrüstung hinzu.
Forrals Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Ach, Kind«, sagte er. »Weißt du denn nicht, wie sehr es mir weh getan hat, dich so zu bestrafen?«
Zum ersten Mal erzählte ihr Forral, was genau ihrem Vater zugestoßen war – wie Geraint durch seine eigene Feuermagie zerstört worden war. Als er mit seinem Bericht am Ende war, zitterte Aurian am ganzen Körper. »Das wußte ich nicht«, stieß sie hervor.
»Ich hätte es dir schon früher erzählen sollen«, sagte Forral, »aber ich hatte gehofft, es dir ersparen zu können, bis du etwas älter wärst. Verstehst du jetzt, warum ich so wütend war? Ich hatte solche Angst um dich, Kleines. Wenn du nun versehentlich dasselbe versucht hättest wie er? Ich würde alles tun, um dich davon abzuhalten, selbst wenn das bedeutet, daß ich dir weh tun muß. Ich liebe dich zu sehr, um dich zu verlieren, so wie ich deinen Vater verloren habe.«
»Aber ich kann nicht dagegen an«,– protestierte Aurian. »Wirklich und wahrhaftig, ich kann nicht! Es steckt in mir, und wenn ich nichts zu tun habe, dann – dann kommt es plötzlich über mich. Was soll ich nur machen, Forral?« Sie war jetzt wirklich verängstigt.
»Keine Sorge, Kleines, ich werde mir etwas ausdenken.« Forral hielt sie noch eine Weile schweigend im Arm, während er mit gefurchter Stirn nachdachte. Aurian spürte, wie sie immer müder wurde, aber es widerstrebte ihr, sich aus der tröstlichen Umarmung ihres Freundes zu lösen, um ins Bett zu gehen.
»Forral, erzählst du mir eine Geschichte?« bat sie schläfrig. »Erzähl mir die Geschichte über den größten Schwertkämpfer der Welt. Das ist meine Lieblingsgeschichte.«
»Das ist es!« Forral saß plötzlich kerzengerade da und hätte sie um ein Haar zu Boden geworfen. »Aurian, wie würde es dir gefallen, die berühmteste Schwertkämpferin der Welt zu werden?«
Aurians Gesicht leuchtete in ungläubiger Freude auf. »Könnte ich das?« fragte sie voller Ehrfurcht.
»Ich sehe keinen Grund, warum nicht. Ich werde dich unterrichten – aber ich warne dich, es wird sehr hart werden. Man wird nicht die beste Schwertkämpferin der Welt, indem man nur herumpfuscht. Als ich zu lernen begann, war ich am ganzen Körper grün und blau, jeder Knochen tat mir weh, und am Ende eines jeden Tages war ich so müde, daß ich es kaum noch schaffte, ins Bett zu kriechen. Wenn du möchtest, daß ich dich unterrichte, dann mußt du all das auch ertragen – und es
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