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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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reichte, schimmerte ihr Gesicht im Kerzenschein wie Eis. Hadrian ertappte sich dabei, dass er rot wurde, weil er sie angestarrt hatte. Dann fiel ihm die kleine Blechdose ein, die Sauger ihr gegeben hatte. Sie hatte sich mit
Engelsglanz
geschminkt.
    Als die Wildpastete serviert wurde, brachte Morgan eine Flasche Holunderwein zum Vorschein, die er bei einem Farmer eingetauscht hatte. Die Stimmung wurde ungezwungener und durchsetzt mit Gelächter, während Morgan erzählte, wie ein Elchbulle ihn mal auf einen Baum gescheucht hatte und was ihm sonst noch für Missgeschicke im Wald unterlaufen waren. Nach dem Essen bat Morgan, Jori und Hadrian sollten den Tisch vor die Wand schieben. Dann verschwand er kurz und kehrte mit einem großen polierten Holzkasten zurück. Er stellte seinen Schatz behutsam auf dem Tisch ab, öffnete den Deckel und nahm eine Kurbel heraus, die er an der Seite in ein Loch steckte und drehte. Gleich darauf erklang Musik aus dem Kasten. Jori jauchzte vor Freude und lief mit großen Augen zu dem Gerät.
    Zu dem alten Grammophon gab es nur noch ein halbes Dutzend Originalplatten, alle mit Big-Band-Musik, aber Morgan hatte es modifiziert, so dass es nun auch die kleineren 45er-Platten abspielte, die er aus seiner Geheimkammer holte, die meisten fast hundert Jahre alt. Die Hauptfeder war schwach. Jemand musste bei dem Grammophon sitzen bleiben und es alle drei oder vier Minuten aufziehen. Aber aus ihm ertönte echte Musik, wie Jori sie noch nie gehört hatte. Morgan fing an, im Takt mit den Fingern zu schnippen, und Jori lachte, als Helen die Arme wie Flügel hob und dann im Raum umherflatterte.
    Bei der nächsten Platte übernahm Hadrian das Kurbeln und gab Morgan ein Zeichen, als die Melodie aus den 1920ern einsetzte. Sein Freund nahm anmutig Helens Arm, und sie fingen an, langsam zu tanzen.
    Ein Zauber senkte sich über den Raum. Das Feuer prasselte, die blinde ältere Frau und ihr Gefährte schwebten sorglos über die Tanzfläche, und die Musik überbrückte nicht nur die Zeit, sondern Welten. Als zwischen den Schallplattenkurz Stille herrschte, hörten sie Aphrodites tiefes Atmen im Winterschlaf, und es klang, als würde der Berg selbst Luft schöpfen.
    Schließlich hatten Morgan und Helen genug und setzten sich. Aber vorher zog Morgan noch Hadrian auf die Beine. Verunsichert ging er zu Jori. Mit schüchternem Lächeln ergriff sie seine ausgestreckte Hand und fing an, sich ungelenk im Takt der Melodie zu bewegen. Sie tanzten durch ein halbes Dutzend Stücke, bis sie endlich lockerer wurde und ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Dann legte Morgan eine neue Platte auf, drehte die Kurbel und holte Helen zurück auf die Tanzfläche.
    Als dieses nächste Stück erklang, brach etwas in Hadrian auf. Die Noten bahnten sich einen Weg durch seit langem verhärtete Narben in seinem Innern. Das Lied stammte nicht aus seiner Jugend, sondern aus der Jugend seiner Mutter. Sie hatte es immer wieder gespielt und dazu träumerisch in der Küche getanzt – manchmal allein, bisweilen aber auch mit ihrem kleinen Sohn als Tanzpartner.
    Somewhere beyond the sea
, sang die sanfte Stimme.
    Doch sie war nicht nur sanft, sondern auch zuversichtlich und von einer unerschütterlichen Freude erfüllt, wie man sie schon seit vielen Jahren aus keinem Mund mehr gehört hatte.
    Jori schien die Veränderung in ihm zu spüren, und auch aus ihr wich jegliche Anspannung. Es war plötzlich, als hätten sie schon ihr ganzes Leben so miteinander getanzt. Als das Lied vorbei war, bat sie Morgan, es noch einmal zu spielen. Hadrian legte ihr mit zitternder Hand einen Finger unter das Kinn und hob ihr Gesicht. Dann fing er an, mit seinem Taschentuch den
Engelsglanz
abzuwischen.
    »Ich weiß, es ist albern. Aus irgendeinem Grund wollte ich heute Abend nicht ich selbst sein …«, murmelte sie und ignorierte die Träne, die ihr über die gesprenkelte Wange lief.Er hielt ihr einen Finger vor den Mund und entfernte behutsam den Rest der Creme. Dann drückte er sie an sich, und sie tanzten.
    Somewhere beyond the sea
, sang die Stimme aus der Vergangenheit,
my lover stands on golden sand and watches the ships that go sailing
.
    Draußen zog das nächste Ende der Welt herauf. Doch hier, jetzt, in der Märchenhöhle mit der blinden Frau, die heiter über die Tanzfläche schwebte, dem toten Sänger, der sie alle mit Freude erfüllte, und der alten Bärin, die in der Nachbarkammer schnarchte, regte sich zum ersten Mal seit vielen Jahren etwas Echtes

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