Die Asche der Erde
blieb dann aber mit großen Augen stehen, sobald sie die Tiefgarage unter dem Gebäude betreten hatten. Hadrian hob die Kerze über ein rotes Cabrio, die Reifen platt, das Stoffdach schimmlig und zerfetzt. Er griff hinein, zog den Verriegelungsknopf hoch und öffnete die Fahrertür. Dax kam zögernd näher. Nach einemMoment streckte er die Hand aus, berührte das Lenkrad und blickte ungläubig auf.
Hadrian ging zum Kofferraum und fand ihn zu seiner Überraschung unverschlossen vor. Er holte Dax, der immer noch stumm und wie betäubt war, zu sich nach hinten. Dann zählte er die Namen der diversen Gegenstände auf, die in dem Kofferraum lagen. Ein Tennisschläger. Eine Kettensäge. Ein Baseballschläger. Ein Haartrockner. Hadrian nahm den Radschlüssel, ging von Wagen zu Wagen und stemmte damit die Kofferraumdeckel auf. Der Junge folgte ihm und betrachtete jeweils den Inhalt. Dabei zeichneten sich in Dax’ Miene die verschiedensten Gefühlsregungen ab. Bestürzung, Wut, Verbitterung und Wehmut.
»Das hier ist die Welt, die
hinter
uns liegt, Dax, und nicht die Welt auf der anderen Seite.«
Hadrian wusste, er würde ohnehin keine Ruhe finden, also übernahm er die Wache nach Björn und ließ Jori weiterschlafen. Während sein Blick über die Ruinenlandschaft schweifte, schossen ihm die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Vor seinem inneren Auge zog die Vegetation sich zurück, und die Gebäude und Straßen kamen zum Vorschein. Er sah Autos und Lastwagen, Fußgänger, die Cafés und Geschäfte betraten, Polizisten, die den Verkehr regelten, die Neonlichter von Schnellimbissen, einen Schulbus voller halbwüchsiger Sportler, eine alte Frau, die einen Terrier an der Leine führte. Hinter sich im Flur hörte er Leute miteinander plaudern, das Geräusch eines Laserdruckers, die Glockensignale der Aufzüge. Hadrian schüttelte heftig den Kopf und murmelte eine Verwünschung. Er hatte genug von den Phantommenschen, er wollte, dass sie ihn in Ruhe ließen.
Dann roch es plötzlich nach Lakritze, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als bei einem bestimmten Phantom zu sein.Er hielt die Luft an, um ja nicht den Zauberbann zu brechen, und drehte sich langsam um. Sein Sohn trug den Baseballdress seiner Schulmannschaft und lächelte erwartungsvoll. Unter seiner Mütze schaute das zerzauste blonde Haar hervor, aus seiner Tasche eine rote Lakritzstange. Als der Junge den Fanghandschuh hob, damit Hadrian ihm einen Ball zuwerfen würde, stiegen dem Vater Tränen in die Augen. Er rührte sich nicht, aus Angst, den Jungen zu verlieren, aber sein Sohn strich sich das widerspenstige Haar aus der Stirn und klopfte in den Handschuh, als erwarte er Hadrians Wurf. In der lächerlichen Hoffnung, er könne den Jungen berühren, trat Hadrian einen Schritt vor. Doch je näher er kam, desto durchscheinender wurde das Gespenst, bis nur noch ein Arm aus dem Schatten ragte, weiterhin mit Handschuh.
Als er wieder an einem der offenen Fenster stand und durch die Ranken blickte, kam Björn zu ihm.
»Sie liegt nicht an ihrem Platz«, verkündete der Norger. »Und sie hat am Abend nichts gegessen.«
Der Tonfall des Polizisten überraschte Hadrian. Es lag keine Verärgerung darin, sondern eine Mischung aus Sorge und Enttäuschung. »Nelly braucht Zeit für sich«, sagte er. »Und was zu essen.«
Björn trat an seine Seite und sah aus dem Fenster. »Sie erinnert mich an meine Großmutter.«
Hadrian war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Sie können sich noch an Ihre Großmutter entsinnen?«
»Meine Mutter hatte ein Foto mitgebracht, aus der Zeit davor. Ein starkes Gesicht, genau wie bei Nelly, mit Augen wie brennende Dochte. Als ich noch klein war, hat meine Mutter so oft von ihr erzählt, dass sie mir wie eine Mitbewohnerin vorgekommen ist. Meine Großmutter war eine unerschrockene Frau. Sie hat allein gelebt und ein Ruderboot besessen, mit dem sie rausgefahren ist, um Kabeljau zu fangen. Siehat immer dafür gesorgt, dass die Leute das Richtige tun. Es hieß, sie sei das Gewissen des ganzen Dorfes gewesen.«
Das war eine überaus lange Rede für den großen Norger; Hadrian hatte ihn noch nie so viel auf einmal sagen gehört. Nelly war nicht länger seine Gefangene. »Sie haben recht, Björn. Sie ist das Gewissen des Dorfes.«
»Manchmal beobachte ich sie, wenn sie schläft. Es lässt mich …« Björn suchte nach den richtigen Worten. »Ich fühle mich dann so friedlich. Aber wenn sie wach ist, hat sie bisweilen Angst vor
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