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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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mir, glaube ich.« Nun klang er eindeutig bekümmert.
    »Sie kennt Sie einfach noch nicht gut genug«, sagte Hadrian und dachte im Stillen, dass auch er den Norger vielleicht noch nicht gut genug kannte.
    »Aber sie hört auf Sie. Das hier ist ein Ort des Todes. Er ist gefährlich.«
    Hadrian begriff endlich, dass Björn ihn um etwas bat. »Natürlich. Ich gehe sie suchen«, erwiderte er. Sein Begleiter nickte erleichtert und weigerte sich, die Schrotflinte zu übernehmen, als würde Hadrian sie dringender brauchen.
    Hadrian suchte die betretbaren Räume der Etage ab. Seine Besorgnis nahm zu. Er fand eine Lücke im Bewuchs vor einem der zerbrochenen Fenster und beugte sich hinaus über die Stadt. Der Mond stand inzwischen hell am Himmel und beleuchtete eine schmale Trittspur durch die Dickichte, die einst Straßen gewesen waren. Mitten in der Stadt saß eine Statue auf einem kleinen Hügel und wurde in silbrigen Mondschein gehüllt.
    Während Hadrian der Spur folgte, hörte er, dass ihm mehrere Geschöpfe auf den Fersen blieben. Er verfluchte sich dafür, keine Laterne mitgenommen zu haben. Als er die breite Lichtung erreichte, sah er, dass es hier überall Hügel unterschiedlicher Größe gab, jedoch keiner davon höher als dreieinhalbMeter. Er kletterte auf die fragliche Anhöhe; es ertönte ein merkwürdig hohles Geräusch. Hadrian steckte seinen Fuß durch den lockeren Schnee und die verfilzte Vegetation und stieß auf eine Metalloberfläche. Ein Lastwagen. Die Hügel waren allesamt Fahrzeuge auf dem zentralen Platz der Stadt, bedeckt von zwei Jahrzehnten Pflanzenwuchs.
    Nelly schien ihn gar nicht zu bemerken. Sie starrte die Ruinenstraße hinunter, und das Mondlicht erhellte ihr Gesicht. Sie hatte geweint.
    Hadrian wollte sich neben sie setzen und erstarrte. Dann riss er die Schrotflinte hoch. Nur wenige Schritte unterhalb saß ein schwarzer Wolf und musterte sie eindringlich. Sie drückte den Lauf der Waffe nach unten. »Er ist schon eine Stunde hier«, sagte sie. »Er mag es, mich singen zu hören.«
    Hadrian kniete sich neben sie und behielt den Finger am Abzug. Das Tier war riesig, größer als jeder Wolf, den er je zu Gesicht bekommen hatte. Hadrian wollte Nelly warnen, dass der Rest des Rudels in der Nähe sein musste, aber sie stimmte auf einmal ein Lied an.
    Wenn Nelly erst mal sang, konnte niemand sie mehr davon abbringen. Nach einigen Momenten hatte Hadrian es auch gar nicht mehr vor. Ihr tief empfundenes, rhythmisches Lied-Gebet schien sich wie eine der Kletterpflanzen in die Welt hinauszuwinden und seine Ranken um das Herz eines jeden Lebewesens zu wickeln, das lauschte. Hadrian starrte sie an. Der Wolf starrte sie an. Immer mehr Tränen liefen über ihre Wangen, aber sie sang weiter. Ihre Atemwolke hing in der kalten Luft über ihr, und das Mondlicht machte daraus einen Glorienschein.
    Hadrian glaubte, Fragmente von alten Volksliedern zu hören, von Rocksongs, von ehemaliger Tanzmusik und Chorälen, alle verwoben zu einem einzigen herrlichen Wohlklang. Nelly schien dabei kaum jemals Luft holen zu müssen. EineEule landete auf einem nahen Baum und drehte ihr die spitzen Ohren zu.
    Als sie schließlich aufhörte, war die Stille wie etwas Heiliges, wie vor den ersten Worten des Geistlichen in einer Kathedrale. Hadrian hätte am liebsten die Waffe weggeworfen.
    »Wie oft bist du schon in der Ruinenlandschaft unterwegs gewesen?«, fragte er nach geraumer Weile.
    »Noch nie. Ich wusste, ich könnte es nicht ertragen.« Hadrian erinnerte sich an ihr grüblerisches Schweigen auf dem Eissegler und während der Wanderung hierher. Sie hatte Angst gehabt – nicht vor den Schakalen, nicht vor den wilden Tieren, sondern vor den Ruinen, denen sie sich unausweichlich stellen musste. »Ich kann es noch immer nicht ertragen, Hadrian. Seit unserer Ankunft habe ich das Gefühl, auf meinen Schultern würde ein ungeheures Gewicht lasten.«
    Der Wolf gab einen ungehaltenen Laut von sich.
    Nelly lächelte wehmütig. »Dies ist nun seine Welt«, sagte sie friedlich. »Ich werde nicht noch mal herkommen.«
    Da verstand Hadrian ihr Lied. Es war eine letzte Lobpreisung der verlorenen Welt gewesen, ein Abschied, der all die Jahre gedauert hatte.
    »Wir sollten zurückgehen«, schlug er vor. »Björn hat sich Sorgen gemacht.«
    »Ein lieber Junge. Ich kann es in seinen Augen sehen. Ich sehe seinen Schmerz. Wenn du eine Statur wie ein Ochse hast, erwarten alle, dass du ein Ochse bist, auch wenn du eigentlich ganz anders

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