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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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starrte müde den dampfenden Becher in ihren Händen an. Ihre weiße Schürze war ausgefranst und mit Blut befleckt.
    »Es tut mir leid, dass ich dich in der Bibliothek einfach weggestoßen habe, Emily«, sagte Hadrian sanft.
    Sie hob langsam den Kopf, strich sich das Haar zurück und wischte sich über die Wangen. Die standhafte, unerschütterliche Leiterin des Krankenhauses der Kolonie hatte geweint.
    »Hast du das, Hadrian?«, fragte sie. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«
    »Das ist gelogen, aber danke.«
    Vier Monate nach Gründung der Kolonie war Hadrian etwa fünfzehn Kilometer landeinwärts auf Emily gestoßen, wo sie sich in einer Höhle um drei sterbende Kinder gekümmert hatte. Er war dort geblieben, bis die Kleinen von ihrem Leid erlöst waren, und hatte Gräber für sie ausgehoben. Dann hatte er Carthage die erste Ärztin gebracht. Letztes Jahr hatten sie nachts oft gemeinsam wach gesessen, um Jonah während seiner Krankheitsschübe zu pflegen. Nun stand Emily auf, nahm die Kanne vom Herd und schenkte ihm einen Tee ein.
    »Ich bin bloß gekommen, um ein wenig Wasser und Seife zu erbitten.«
    Emily hielt eine Öllampe in Hadrians Richtung und verzog das Gesicht. »Ein wenig? Nachdem du Wochen im Gefängnis verbracht und tagsüber alte Exkremente geschaufelt hast?« Sie stieß ihm einen ausgestreckten Zeigefinger vor die Brust, drängte ihn hinaus auf die hintere Veranda und wies auf eine metallene Badewanne, die dort in einer Ecke stand. Er wollte protestieren, aber ihre erhobene Hand ließ ihn verstummen. »Du gehst nicht zu Jonahs Begräbnis und riechst dabei wie eine Latrine.«
    Eine Viertelstunde später saß Hadrian zufrieden im heißen Wasser, das aus dem großen Behälter stammte, der mit dem Herd verbunden war. Ein Streichholz flammte auf. Emily ließ sich drei Meter entfernt auf einem Schaukelstuhl nieder und zündete sich eine kleine Tabakspfeife an.
    »Er wurde umgebracht, Em«, sagte Boone.
    »Ich bin in der bekannten Welt die maßgebliche Autorität zur Begutachtung der Schäden, die durch eine Schlinge um den Hals hervorgerufen werden. Der offizielle Befund lautet Tod durch Erhängen.«
    »Er hätte niemals Selbstmord begangen. Nicht Jonah. Das Leben war ihm bei weitem zu kostbar, und er hatte doch noch so viel vor.«
    »Wir hier in Carthage kennen die Pathologie des menschlichen Geistes nur zu gut. Mir fallen zwanzig Gründe ein, weshalb Jonah plötzlich aufgegeben haben könnte. Seine Arthritis wurde jeden Tag schlimmer. Hast du auch nur die geringste Ahnung, was ständige Schmerzen mit dir anstellen können?«
    »Und wieso sollte er außerdem versuchen, sein Lebenswerk zu verbrennen?«
    »Ein halbes Dutzend Gründe.«
    »Zu den Szenarien, die du dir vorstellen könntest, zählt doch mit Sicherheit auch ein Mord.«
    Die Leiterin des Krankenhauses von Carthage blieb lange stumm und schaute dem Tabakrauch hinterher, der im Mondschein emporstieg. »Zwei seiner Finger waren gebrochen. Am Oberarm gab es einen Abdruck; jemand hat ihn dort gepackt, fest wie ein Schraubstock.«
    Hadrian senkte die Stimme. »Weiß Buchanan davon?«
    »Er war dabei, als ich den Leichnam gesäubert habe. Ich habe ihn auf die verdächtigen Umstände hingewiesen. Er hat mich sofort ermahnt, Mord sei ein Konstrukt der Justiz, kein Konzept der Medizin. Dann hat er behauptet, die Verletzungen seien entstanden, als Jonah vom Seil geschnitten wurde und zu Boden gefallen ist. Als ich widersprochen habe, sagte er, wir seien verpflichtet, die Bevölkerung nicht in Panik zu versetzen, und dass Jonah wollen würde, durch seinen Tod zum Besten der Kolonie beizutragen.«
    Hadrian lehnte sich in seinem Kokon aus warmem Wasser und Mondlicht zurück. Am Horizont zeugte eine Funkenspur von der späten Rückkehr eines der Fischdampfer. Darüber schimmerte ein Nordlicht. Jonah hatte sich auch für Astrophysik interessiert und an einer gelehrten Abhandlung darüber gearbeitet, weshalb die Zahl der Polarlichter im Verlauf der letzten Generation merklich angestiegen war.
    Es war Emily, die das Schweigen brach. »Letzte Woche ist hier bei uns ein alter Mann gestorben«, sagte sie bekümmert. »Er hatte keine Angehörigen mehr und war eigentlich Zimmermann von Beruf, aber in seiner Freizeit hat er es mehrmals mit der Gründung kleiner Glaubensgemeinschaften versucht. Zuerst eine baptistische, dann eine episkopale. Zuletzt eine buddhistische, aber seine Bemühungen sind immer gescheitert. In seiner letzten Nacht kam er nach hier draußen. Bei

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