Die Asche der Erde
Tagesanbruch habe ich ihn tot vorgefunden. Erlehnte an einem Pfosten und blickte nach oben. Auf seinem Schoß lag ein Zettel. Ich dachte, es würde ein Gebet oder ein letzter Wille sein. Doch darauf stand:
Nachdem die Erde zu Asche zerfallen war, konnte ich die Sterne deutlicher sehen
.«
»Jonah war der Beste von uns allen, Em«, sagte Hadrian nach einer Weile. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte.
Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme ganz leise. »Er hat immer nach vorn geblickt. Für uns andere mochte die Welt untergegangen sein, aber er verhielt sich wie nach einem schlimmen Unglücksfall, den man einfach hinter sich zurücklassen muss.«
»Anfangs dachte ich, es sei Verbitterung«, erwiderte Hadrian. »Doch schon bald wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Es war Mut. Mehr als ich je aufbringen konnte.«
»Ich habe alte Bücher über Psychiatrie gelesen. Manchmal glaube ich, dass wir im Innern so versehrt sind wie die Verbannten von außen. Aber nicht Jonah. Ich habe nie begriffen, wie er das gemacht hat. Als wäre er der letzte echte Mensch auf Erden.«
»War da noch etwas an seinem Körper? Eine Messerwunde?«
»Eher so etwas wie eine Linie mit zerdrückten Blutgefäßen, ziemlich hoch am Hals. Ein ganz oberflächlicher Schnitt. Er könnte von einem Messer stammen, das man ihm an die Kehle gehalten hat. Ansonsten ist mir nichts aufgefallen. Bloß ein paar Verfärbungen auf seinen Lippen. Kleine braune und violette Punkte. Vielleicht eine allergische Reaktion.«
Während Hadrian noch über ihre Worte nachdachte, stand Emily auf. »Auf dem Stuhl bei der Tür liegt saubere Kleidung, und du kannst das Bett in dem Untersuchungsraum neben der Küche haben, vorausgesetzt du hast davor zehn Minuten Zeit für mich. Wir sehen uns im ersten Stock, nördliche Ecke.«
Als Hadrian oben eintraf, nahm sie gerade den Puls eines jungen Mannes. Ihr Patient war fast noch ein Halbwüchsiger, und die linke Hälfte seines Gesichts hing seltsam schlaff herab. Emily hob sein linkes Handgelenk ein Stück an und ließ es fallen. Der Arm war leblos.
»Keine Mutation, kein Geburtsfehler?«, fragte Hadrian.
Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Er heißt Jamie Reese und hat jahrelang in der Fischereiflotte gearbeitet. Seine Mutter ist die Kapitänin der
Zeus
, das ist einer der alten Segeltrawler. Die Mannschaft hat Jamie eines Morgens so in seiner Koje vorgefunden. Falls er fünfzig Jahre älter wäre, würde ich auf einen Schlaganfall tippen. Es sind Lähmungen vorhanden, vermutlich auch Nervenschädigungen. Er kann weder sprechen noch schreiben. Wacht gelegentlich auf und fällt wieder ins Koma.«
»Vielleicht wurde er auf den Kopf geschlagen, und die Folgen der Gehirnerschütterung sind mit Verzögerung eingetreten.«
»So lautete der ursprüngliche Verdacht. Aber es gibt keine Anzeichen für einen Schlag. Und als ich zum Hafen gegangen bin, um mich nach einem etwaigen Unfall zu erkundigen, wollte keiner seiner Mannschaftskameraden mit mir reden.«
»Reese … Warum kommt der Name mir bekannt vor?«
»Der Held des Untergangs der
Anna
. Er war einer der beiden Überlebenden und hat den Kapitän gerettet.«
Hadrian musterte den Patienten mit neuem Interesse. Die
Anna
war der erste Dampfer der Kolonie gewesen und vor mehr als einem Jahr einem Sturm zum Opfer gefallen. Reese und der Kapitän hatten mehrere Tage in einem Beiboot überlebt, bevor sie von einem anderen Fischerboot gefunden wurden. Hadrian ging um das Bett herum, hob die Arme des jungen Mannes an und schob ihm die Ärmel hoch.
»Wonach suchst du?«
»Keine Ahnung. Nach einer Tätowierung. Oder irgendeinem Kennzeichen.«
»Seine Mutter ist anfangs jeden Tag hergekommen, aber jetzt nicht mehr. Sie war immer sehr aufgewühlt. Ich dachte, es wäre der Kummer, aber bei ihrem letzten Besuch kam es mir eher wie Angst vor. Gestern kamen zwei Männer, die nach Fisch rochen. Sie wollten das Zimmer nicht betreten und haben ihn nur von der Tür aus angesehen. Ich fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie wollten wissen, ob er überleben würde. Als ich sagte, vermutlich ja, schienen sie erleichtert zu sein. Dann sind sie einfach wieder gegangen.«
Hadrian bemerkte einen Lederriemen um den Hals des Fischers und zog ihn heraus. An ihm hing ein Stück Blech mit einem eingeprägten Bild, einem Wolf auf zwei Beinen. Doch im Gegensatz zu dem Medaillon, das der tote Scout in der Hand gehalten hatte, stand dieser Wolf auf dem Ast eines Baumes. Demnach also kein
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