Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
an. In dem Buch waren zwei Dutzend Seiten durch umgeknickte Ecken markiert worden. Hadrian überflog sie. Longfellow, Frost, Riley, Holmes, Emerson. Dann standen plötzlich die Worte aus der Feder von Whittier vor ihm und sprangen ihm ins Auge, einschließlich der fehlenden Stelle.
So schön wie der Garten des Herrn
, hatte der Dichter geschrieben. »Jedenfalls in den Augen der ausgehungerten Rebellenhorde«, las Hadrian den Halbsatz am Ende laut vor.
    Die fehlenden Worte ließen ihn erschaudern. Durch sie schien die ganze Seite in einem anderen Licht dazustehen. Für jeden, der dieses Rätsel löste, war der Text weniger eine Würdigung des Erntedankfestes als vielmehr eine Mahnung an das Elend der Ausgestoßenen. Hadrian hatte nie gehört, dass Jonah die Geächteten als Rebellen bezeichnet hätte. Voreinigen Jahren hatte es Gerüchte gegeben, in den Camps sei es zu offener Auflehnung gekommen, die sich erst beruhigt habe, als die Anführer der Bewegung einer Krankheit erlegen seien. Hadrian starrte die Worte mit neuerlichem Unbehagen an und versuchte sich einzureden, es handle sich bloß um die Gedankenspiele eines alten Gelehrten.
    Er trat hinaus auf den Balkon vor der Werkstatt. Erst zwei Tage zuvor hatten er und Jonah gemeinsam hier gestanden. Der alte Mann war so voller Hoffnung gewesen und hatte von der bevorstehenden Renaissance gesprochen. Hadrian hob das Gesicht in die kühle Brise und schaute hinaus über das Wasser. Früher hatte man das Binnenmeer einen Großen See genannt, aber diese Bezeichnung war verlorengegangen. Die Überlebenden hatten die sonderbare Angewohnheit, die alten Ortsnamen zu meiden, als wären auch sie in der Katastrophe ausgelöscht worden. Alles war gleich geblieben und doch anders. Jonah war tot, und nichts mehr war so wie zuvor.
    Hadrian wurde von einer dermaßen starken Verzweiflung befallen, dass er sich an der Balustrade festhalten musste. Dabei berührte er eine Furche im Holz, eine schmale, etwa drei Millimeter breite Rinne quer über die Brüstung. Es hätte sich um einen unbedeutenden zufälligen Makel handeln können, den der Zimmermann übersehen hatte, doch Hadrian wusste, dass diese Furche beim Bau des Gebäudes noch nicht vorhanden gewesen war. Sie war nachträglich und mit Absicht eingekerbt worden, und Jonah hatte nie etwas ohne konkreten Anlass getan. Hadrian suchte das gesamte Geländer ab und fand noch zwei weitere dieser Rinnen, die jeweils in einem anderen Winkel verliefen.
    Er holte drei Bleistifte vom Schreibtisch und legte sie auf die Furchen. Sie zeigten alle auf das Teleskop in der Mitte des Balkons. Die Position von dessen Stativ war durch Bodenmarkierungen für jedes der drei Beine vorgegeben. Hadrianschwenkte das Teleskop auf die Sichtachse der ersten Rille im Geländer. Er blickte auf die langgestreckte Kammlinie westlich von Carthage, jenseits der tiefen Schlucht, die die Kolonie von den missliebigen Camps trennte. Hadrian erhöhte die Vergrößerung, und eine tote Eiche am Ende des Grats füllte sein Sichtfeld aus. Auf ihr ließen sich manchmal Falken nieder, und auch jetzt saß dort ein Vogel. Der Baum war Teil der Überlieferungen der Kolonie geworden. Es hieß, auf ihm würden die Geier rasten, nachdem sie sich an den Toten der Camps satt gefressen hätten.
    Er stellte die Vergrößerung wieder zurück und drehte das Teleskop auf die zweite Markierung. Mehrere Häuser wurden sichtbar. Eine Ecke des Regierungsgebäudes. Eine Taverne. Die beiden Theater der Kolonie. Nachdem Hadrian erneut die Vergrößerung erhöht hatte, kam der entfernteste Bau in Sicht. Es war die Fischverarbeitungsfabrik – genauer gesagt ihr Dach.
    Die dritte Rinne wies direkt auf den steilen Hang der Hügelkette, von der die Siedlung im Osten begrenzt wurde. Dort gab es nichts außer großen Bäumen, die der stete Nordwestwind gebeugt hatte, und eine Lichtung auf der Spitze, wo die Leute gern zum Picknick hingingen. Hadrian überlegte. Ihm fiel ein, dass Jonah irgendwo noch eine andere, stärkere Linse besaß, mit der sie bisweilen den Mond betrachtet hatten. Er ging hinein und erspähte inmitten der Trümmer ein hölzernes Kästchen, das aus einem der Regale gefallen war. Die Hälfte des Inhalts lag auf dem Boden. Schreibfedern, einige alte Kristallteile eines Kronleuchters, ein Brieföffner. Noch im Kästchen befand sich der kleine abgenutzte Karton mit der Linse.
    Gleich darauf hatte Hadrian das Okular gewechselt und richtete das Teleskop abermals auf die erste Stelle aus.

Weitere Kostenlose Bücher