Die Asche der Erde
er sie gewiss nicht in der Bibliothek aufbewahrt haben.
Sein alter Freund hatte Spiele geliebt. Für Hadrians Geburtstag hatte er einst einen Lageplan gezeichnet, auf dem die Verstecke kleiner Geschenke allein durch lateinische Rätselverse bezeichnet waren. Nun stieß Hadrian mit dem Fuß versehentlich gegen eine Keramikscherbe und beförderte sie dadurch unter den Tisch.
Als er sich hinkniete, um sie aufzuheben, fiel sein Blick zufällig auf die Unterseite der Tischplatte. Dort stand etwas geschrieben. Hadrian legte sich auf den Rücken, um es zu lesen. Er wusste noch, wie er vor Jahren beim Bau des überdimensionalen Möbelstücks geholfen hatte. Das Holz stammte von ehemaligen Frachtkisten. Die Kolonie hatte den größten Teil ihrer ersten Bergungsgüter einem gestrandeten Containerschiff zu verdanken. Auf der Unterseite des Tisches standen mehrere Aufschriften aus jener Zeit. Diese Seite oben. Hier anheben. Korean Shipping Company. Und eine Folge vonWorten, die so schwarz wie die anderen waren, aber in kleineren Buchstaben verfasst, anscheinend aus einem osteuropäischen Alphabet. Nein. Sie waren spiegelverkehrt und wirkten nur auf den ersten Blick wie die Überbleibsel irgendeiner vergessenen ausländischen Sprache. Doch diese Sprache hier war nicht tot und vergessen, jedenfalls nicht solange Hadrian lebte. Es war Latein. Er fand eine Spiegelscherbe und legte sie auf den Boden, um die Worte darin zu lesen. Quaere verum imprimis. Suche zuerst die Wahrheit. Das Gefühl, etwas Wichtiges entdeckt zu haben, legte sich sofort und wich wieder der Verzweiflung. Jonahs eigentümlicher Humor würde noch das Ende von Hadrians Suche bedeuten, bevor sie wirklich begonnen hatte.
In der Ferne ertönte eine Glocke und rief die Bürger zum Begräbnis. Hadrian lief so schnell zur Tür hinaus, dass die Verfolgerin auf der Treppe ihm beinahe entgangen wäre.
»Sie!«, fuhr er Sergeant Waller an. »Ich sagte doch, es war ein Irrtum. Kehren Sie in Ihr Büro zurück.«
Die Polizistin richtete sich auf. »Ich weiß nicht, warum ich bestraft werde«, sagte sie. »Aber ich weiß, dass es mir nicht gestattet ist, meinen Auftrag zu ignorieren.«
»Bestraft?«
Waller senkte den Blick. »Sie sind ein bekannter Verbrecher. Nicht nur ein Verbrecher. Ein Saboteur, ein Dissident.« Ihre Stimme klang, als wäre dies die schlimmste seiner Untaten. »Jeder in der Truppe weiß, dass der Gouverneur eine Akte über Sie angelegt hat.«
»Weshalb würde man Sie bestrafen, wenn Sie meiner Anweisung Folge leisten und mich allein lassen würden?«
»Ich habe schon bei meinem letzten Auftrag versagt. Falls mir das noch mal passiert, lässt Lieutenant Kenton mich die nächsten sechs Monate die Behördenställe ausmisten.«
»Lieutenant? Seit wann?«
»Seit gestern.«
Hadrian verzog das Gesicht. »Ich soll mit Ihnen Mitleid haben, weil man Sie geschickt hat, um mich zu bespitzeln?«
»Falls ich Ihnen tatsächlich helfe, erklärt der Gouverneur mich zur Beteiligten an einer Verschwörung. Und falls ich Ihnen nicht helfe, wird er behaupten, ich hätte ihm den Gehorsam verweigert.«
»Und was nun?«
»Ich könnte ja so tun, als wäre ich Ihnen behilflich«, schlug Sergeant Waller vor.
Hadrian lächelte humorlos. »Gut. Sie machen Folgendes: Finden Sie heraus, ob jemand bei Ausbruch des Feuers in der Bibliothek gearbeitet hat. Falls ja, stellen Sie den betreffenden Personen zum Schein ein paar Fragen: Wer war hier? Was hat Jonah gemacht? Ist irgendwas Außergewöhnliches passiert?«
Sie nickte zögernd.
»Gehen Sie die Straße entlang. Fragen Sie die Passanten, ob sie etwas gesehen haben. Dann verfassen Sie Ihren Bericht. Schreiben Sie, was der Gouverneur hören will. Formulieren Sie nicht zu zurückhaltend. Würzen Sie das Ganze mit einigen Gerüchten, die Sie aufgeschnappt haben.
Die Bürger sorgen sich um die öffentliche Sicherheit. Die Leute sind dankbar, dass es schon fließendes Wasser gab, mit dem das Feuer gelöscht werden konnte. Sie fragen sich, ob die beschädigten Bücher wohl zum Gebrauch auf der Latrine versteigert werden.
Mindestens zwanzig Seiten. Dem Gouverneur ist Quantität wichtiger als Qualität.«
Die Stimmung der Polizistin hob sich sichtlich. Waller nahm das erstbeste Buch in Reichweite, riss das Titelblatt heraus und machte sich Notizen.
Draußen setzte ein dumpfer Trommelschlag ein.
Der regierende Rat von Carthage ließ alle zwei oder drei Jahre ein Staatsbegräbnis abhalten. Die Kinder bekamen schulfrei. Der
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