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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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seiner Zensurpolitik, zu denen auch gehörte, dass das gemeine Volk bestens mit den Werken Shakespeares vertraut war?
    Die Rede verwandelte sich schnell in eine Aufzählung von Jonahs vielen außergewöhnlichen Leistungen. Konstrukteur der Dämme und Mahl- beziehungsweise Sägewerke, mit deren Hilfe die Wassermühlen das Getreide mahlten und das Bauholz zurechtschnitten. Konstrukteur und leitender Ingenieur der Dampferflotte. Gründer des Kinderorchesters. Langjähriger Leiter des alljährlichen George-Bernard-Shaw-Festivals. Das Schluchzen der Leute wurde immer lauter.
    Wie eigentümlich, dachte Hadrian, dass beim Tod eines der älteren Bürger nie Bezug auf dessen Leben oder Wirkenin der früheren Welt genommen wurde.
Autor von Büchern über Astrophysik
, hätte Hadrian am liebsten gerufen.
Rektor der Universität dieser Region. Inhaber von Patenten, die im Weltraum zur Anwendung gekommen sind. Vater von drei Kindern. Ehemann einer berühmten Medizinforscherin
. Doch diesen Tod war Jonah bereits während endloser Nächte vor langer Zeit gestorben. Seine Frau, seine Kinder, seine Universität und die Stadt, in der sie stand, waren alle in einem einzigen grellen Blitz ausgelöscht worden. Sogar die wissenschaftliche Disziplin der Astrophysik gab es nicht mehr, zumindest für die nächsten hundert Jahre.
    Hadrian schloss die Augen, riss sich zusammen und schaute zum Himmel. An einem Tag wie heute wären Jonah und er einst vielleicht Vögel beobachten gegangen. Hadrian hätte ihm geholfen, sich Notizen über die merkwürdigen Gefiedervariationen zu machen, die immer häufiger auftraten. Er blickte zu dem toten Baum auf der westlichen Kammlinie und stutzte. Da saß mal wieder ein großer Vogel. Hadrian kniff die Augen zusammen und schirmte sie vor der Sonne ab. Nein, kein Vogel, sondern eine Gestalt mit einem Umhang, die das Begräbnis beobachtete.
    Erschrocken sah Hadrian zu Buchanan, der gerade über Jonahs Auszeichnungen und Ämter sprach. Der Gouverneur wandte dem toten Baum den Rücken zu. Er redete weiter. »Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats, Bürger des Jahres …« Buchanan verstummte schlagartig und starrte mit offenem Mund zu dem steinernen Wohnhaus am Rand des Friedhofs. Auf dem Schornstein saß ein Mann in einem schwarzen Mantel und hielt ein langes Musikinstrument, das einer Blockflöte ähnelte. Der Wind legte sich. Niemand sagte ein Wort. Bis eine Beschimpfung die Stille zerriss:
    »Briketts!«, rief Kenton.
    Dann trat eine haarlose Frau in einem grauen Umhanghinter dem Schornstein hervor. Die Flöte fing an, eine langsame, anmutige Melodie zu spielen, die Hadrian erst erkannte, als die Frau mit kraftvoller Stimme zu singen begann.
»Amazing Grace, how sweet the sound, that saved a wretch like me …«
    Von unten fielen zögernd andere Stimmen ein, bis fast die gesamte Trauergemeinde sang. Buchanan versuchte vergeblich, sie daran zu hindern.
    »I once was lost, but now I’m found, was blind, but now I see …«
    Hadrian grinste, bis er sah, dass Kenton mit mehreren Beamten losrannte. Er sprang auf. »Nelly!«, rief er warnend der Frau zu, während Kenton im Innern des Hauses verschwand. Doch Hadrians Ruf wurde übertönt. Die Bürger von Carthage sangen weiter, sogar noch nachdem die Polizisten auf dem Dach aufgetaucht waren. Sie hielten erst inne, als die Beamten anfingen, die Eindringlinge mit ihren Knüppeln zu verprügeln.
    Dann erklang in der nervösen Stille ein sonderbares Echo. Buchanan fuhr herum, stieß einen Fluch aus und brüllte nach seiner Polizei. Doch die Männer blieben nach wenigen Schritten stehen. Es kam wieder Wind auf, und er trug andere Stimmen heran. Auf der Kammlinie jenseits der Schlucht und somit außerhalb ihrer Reichweite stand eine Reihe aus mindestens fünfzig weiteren der spindeldürren Ausgestoßenen. Viele von ihnen hatten ihre entstellten Gesichter unter Kapuzen verborgen, und sie alle sangen dem geliebten Jonah, dem letzten echten Menschen auf Erden, eine Lobpreisung.

K APITEL DREI
    Die Hütte lag schon seit mehr als einem Jahrhundert versteckt zwischen den beiden steilen Hängen, und die blühenden Kletterpflanzen, die ihre steinernen Wände erklommen, zeugten von der sachten Hand der Natur, nicht vom verderblichen Einfluss des Menschen. Als Hadrian sich ihr auf dem ausgetretenen Pfad näherte, wurde er von einer tiefen Niedergeschlagenheit übermannt. Er stellte sich vor, dass Jonah ihn hier erwartete und ihn einlud, an den frischen Kräutern im

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